Florian
Kronbichler


Von der Selbstausbeutung Rede im Europa-Parlament zur Gedächtnisfeier „Alexander Langer – 20 years later. A visionary witness of our time.

 

Für Alexander Langer gilt, was für alle Großen gilt: Der Preis für ihre Großtaten sind ihre Schwächen. Darüber möchte ich sprechen: Was hat Alexander Langer uns für Schwäche hinterlassen, von der wir, wir politischen Verantwortungsträger zumal, lernen müssen? Ich bin überzeugt, ich spreche über etwas sehr Aktuelles.

Zu Silvester 1994, das war ein halbes Jahr vor seinem Tod, hat Alexander Langer aus Assisi ein Kärtchen geschrieben mit dem vertrauten Motiv von der rastenden heiligen Familie auf ihrer Flucht nach Ägypten. Auf der Rückseite schreibt er: „Ohne die Rast, wie die Maler sie so gern darstellen, fahre ich fort in meiner Flucht nach einem Ägypten, das ich nicht finde“.

Einige Tage nach Langers Tod führte ich ein langes Gespräch mit Otto von Habsburg, dem österreichischen Kaisersohn, der damals Europaparlamentarier für die CSU war. Der Schwarze und der Grüne suchten einander, wobei der Kaiserliche aus seiner Wertschätzung für den „Freund“, wie er Langer respektvoll hieß, viel weniger Geheimnis machte als umgekehrt. Habsburg war zu souverän, um Berührungsängste politischer Art zu haben. So erzählte er mir, er habe dem Freund mehrmals und zum letzten Mal wenige Tage vor seinem Tod gesagt: „Herr Langer, Sie arbeiten zu viel. Machen Sie mir den Gefallen, arbeiten Sie weniger!“

Wir begehen heute den 20. Jahrestag des Todes von Alexander Langer. Zum 10. habe ich im Auftrag der Alexander-Langer-Stiftung eine kleine Biografie geschrieben, „ein Alexander-Langer-ABC“. Die Form des ABCs hat er selber gern verwendet: pro Buchstaben einen Gedanken, einen Vorsatz. Selten ist er bis zum Zett gekommen. Aus purer Zeitnot. Immer kam etwas Neues, Dringenderes, dazwischen.

Den Titel fürs Büchlein entlieh ich von seinem längst zum geflügelten Wort malträtierten letzten Satz: „Macht weiter, was gut gut war!“ Davon nahm ich nur den zweiten, den relativierenden Teil: „was gut war“. Nicht den ersten, aufrufenden „Macht weiter!“ Dass ein lebenslang Rastloser, Mitreißender, Aufbrechender im Moment der tiefsten Verzweiflung selbst sein Leben noch beschließt mit einem Auftrag: „Macht weiter!“, das ist für diesen Menschen so bezeichnend wie für uns Hinterbliebenen bedenklich. Dieses „Macht weiter, was gut war!“ ist seither nachgerade zu einer weltlichen Gebetsformel geworden. Und gleich gedankenlos wird es in den Mund genommen.

Ich rechne es mir zu einem großen Glück an, Alexander Langer in seinen letzten, seinen europäischen Jahren zum Freund gehabt zu haben. Mein ehrendes Gedächtnis bemühe ich mich ihm vornehmlich dadurch zu bewahren, dass ich ihn gegen die Verklärung, ja die Kanonisierung seiner Schwächen in Schutz nehme. Und dass ich junge, talentierte Menschen vor Nachahmung warne. Sie sollen sich mit seinen Ideen und Initiativen auseinandersetzen, aber „dass sie mir ja keine Langerianer werden!“. So hat es mir vor 11 Jahren im Kerker von Pisa Adriano Sofri aufgetragen. Jede „Imitatio Christi“ ist verhängnisvoll.

Wenn ich das Verhängnisvollste an Alexander Langer in ein Wort fassen müsste, es wäre das Wort „alle“. Es zieht sich durch sein ganzes Leben, angefangen vom ersten geschriebenen Artikel und endend mit seinem Abschiedsbrief. Es geht ihm immer um alle. Darin muss er uns eine Lehre sein: eine abschreckende.

Den Leitartikel seiner ersten Schülerzeitung beginnt der 15jährige Musterschüler eines Bozner Klostergymnasiums wie folgt: „Wir möchten für alle da sein, wir wollen allen helfen, wir suchen Kontakt mit allen. Unsere Hilfe steht allen offen, unser Gebet gilt allen.“ Kann Engagement radikaler, maßloser, ja, totalitärer sein?

Langer hat den Anspruch sein ganzes Leben durchgehalten. Vom schwärmerischen jungen Christen über den Revolutionär der Studenten- und Arbeiterbewegung bis zum zweifelnden Kümmerer für Frieden und Umwelt. Immer für alle, immer sich überfordernd, meistens am Ende allein. Langer ist der Beweis: Qualität kann verdammt einsam machen. Von den Ideen Alexander Langers ist seit seinem Tod vor 20 Jahren manches verwirklicht worden. So gesehen erweis er sich vielfach als prophetisch. Kritiker behaupten folglich, „der Langer“ war mit seinen Ideen „zu minderheitlich“ und „zu früh dran“. Es ist ein dummes Argument. Was nicht minderheitlich ist, ist nicht neu. Langer war ein begnadeter Übersetzer, und das nicht nur sprachlich. Er erkannte Zeichen der Zeit und übertrug sie in politische Realitäten, je nachdem. Ein Brückenschlager war er. Christophorus war seine Lieblingsheiligenfigur.

Wer die Darstellungen dieses Heiligen aus der Kunstgeschichte oder von der Außenfassade vieler unserer Kirchen kennt: ein christianisierter Herkules, eine Naturgewalt von Mensch. Und wer Alexander Langer kannte: schmächtig, asthmatisch, bestimmt kein Kerl. Wer diese beiden vergleicht, den Heiligen und seinen Verehrer, der kann Langers anderen letzten Satz gut verstehen: „Ich derpack es einfach nicht mehr“.

Von den vielen Begegnungen mit bedeutenden Menschen – kaum einer unserer Generation wird so viele bedeutende Menschen persönlich getroffen haben – ist eine besonders prägende zu nennen: Es ist jene mit Don Lorenzo Milani, dem berühmten Priester, Pädagogen und Sozialrevolutionär im Florenz der späten 1960er Jahre. Langer gehört zu seinen Bewunderern. Don Milani stellt einmal am Bibelwort „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ die Frage: „Wie viele können unsere Nächsten sein?“ Der Geistliche sagt: Etwa dreihundert. 300 bis 400 lässt er sogar mit sich handeln. Doch „mehr kannst du nicht lieben“.

Eine Antwort des Schülers Alexander auf solche Einschätzung des Lehrers ist nicht überliefert. Doch wir wissen sie. Die Bemessung und somit die Eingrenzung mitmenschlicher Hilfsbereitschaft muss ihm unerträglich erschienen sein. Ein Erzieher hatte den noch jüngeren Schüler Alexander schon viel früher einmal ermahnt: „Gib Acht, dass du nicht durch das Bessere das Gute gefährdest“. Darauf hat dieser geantwortet, er wolle sich ans Bibelwort halten: „Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist!“

Liebe Feiergemeinde, ich wäre jetzt sehr traurig, hier dächte jemand, ich hätte Alexander Langer zum Gedächtnis seines Todes schlecht geredet. Ich wollte durch ihn etwas zu uns selber sagen. Die Versuchung zur Selbstüberforderung, das Auseinanderklaffen von Anspruch und Möglichkeit, ist heute größer denn je, gerade im Politikbetrieb. Ich bemängle an Langer-Rezeptionen, dass bei aller verdienten Würdigung seiner Leistungen auffällig oft das Ende, das Scheitern, ausgeblendet bleibt. Manche fanden solche Kritik pietätlos. Valeria darin auf meiner Seite zu wissen, war mir Bestätigung. Ich finde, von Langer lernen, heißt auch, weniger vollkommen sein zu wollen als er.

Ich schließe mit „allen“, so wie er: „ ‚Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid!’ – auch dieser Einladung zu folgen, fehlt mir die Kraft.“ Ist wieder aus seinen Abschiedszetteln, wieder ein Bibelzitat, und wieder „alle“. Denken wir im politischen Geschäft, wie der überforderte Alexander Langer, gelegentlich an „die Rast, wie die Maler die Flucht nach Ägypten so gern darstellen“.

Florian Kronbichler. Brüssel, 3. Juni 2015.

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