Florian
Kronbichler


Unterwegs auf die Altäre

 

Ein Episödchen zu Anfang: Heuer im Frühjahr wurde im neuen Bozner Stadtteil Firmian die Grundschule „Alexander Langer“ eingeweiht. Es ist dies die erste gemeinsam italienisch-deutsche Schule in Südtirols sonst weiterhin nach Sprachen getrennter Schulgeschichte. Die Freude aller Convivenza-Euphoriker war selbstredend groß. 20 Jahre nach dem Tod von Alexander Langer, dem Visionär des einen, alle Volksgruppen verbindenden, mehrsprachigen Südtirols – endlich! Es war aber auch das real dominierende Südtirol da, der Bürgermeister, die Schulamtsleiter, die Kulturreferenten der Landesregierung, und alle redeten dem neuen Miteinander das Wort. Ein jeder in seiner Sprache, und alle verstanden einander – ein Pfingstwunder auf dem Lande. So fühlte es sich an.

 

Zum Abschluss der Eröffnungsfeier, alle hatten schon alles gesagt, wurde noch Valeria Malcontenti, Langers Frau, ans Mikrofon gezerrt. Und Valeria sagte Folgendes: „Aber Kinder, wisst ihr auch zu schätzen, was für Schule ihr da bekommen habt? Ich glaube, Alexander wäre nicht von uns gegangen, wenn er diese Schule erlebt hätte. Doch andererseits, wäre er noch am Leben, gäb’s diese Schule nicht.“

 

Man muss nicht Valerias florentinische Spitzzüngigkeit kennen, um die politische Brisanz dieses Ausspruchs zu verstehen. Alles, wollen wir großzügig sein und sagen: fast alles, was Alexander Langer bewirkt hat, geschah nach seinem Tod. Zu seinem 20. Todestag, der sich am kommenden 3. Juli jährt, gilt: Langer lebt, Langer ist Mythos, der Mythos Langer wirkt.

 

Vor zwanzig Jahren starb Alexander Langer. Die Betroffenheit war damals überwältigend. Größer als über den Tod an sich freilich wegen der Art des Todes, des „Weggehens“, wie er selber schrieb, auf einem der Zettelchen unter dem Marillenbaum im Olivenhain, auf dem er sich erhängte. „Bitte, verzeiht mir alle – auch die Art des Weggehens.“ „Er hat’s net ghepp“, war an jenem schwülen 3. Juli 1995 die erste Reaktion des damaligen Landeshauptmannes Durnwalder. Es war nicht respektlos gemeint und außerdem von allen Vermutungen und Spekulationen übers Warum wahrscheinlich die der Wahrheit am nächsten kommende.

 

Was auf den Tag des Todes folgte und nicht mehr abebben sollte, wurde dann unterschiedlich empfunden. Das Begräbnis, mehrere Begräbnisse. In Fiesole bei Florenz, in Bozen bei den Franziskanern, schließlich das letzte, und dort liegt er begraben, auf Obertelfes bei Sterzing. Die Würdigungen unzählbar; schnell leider auch einiges Geriss ums Erbe (geistig wie materiell); Langer-Bücher, jedes Jahr mindestens eines, nein: mehr; die Stiftung in seinem Namen; Tagungen, Tagungen; und immer wieder die Jahrtage, die außer regelmäßig in zusätzliche Begräbnisse auszuarten, jedes Mal der Frage gewidmet blieben: „Was wäre, wenn Alex noch wäre?“

 

Die Trauerrituale wurden allmählich ziemlich unerträglich, und an die Fortlebenden denkend habe ich irgendwann der „Alexander-Langer-Gebetsliga“, so hieß ich die tätige Hinterbliebenen-Gemeinde, in diesem Blatt einen Leitartikel gewidmet: Die Linken und Alternativen, habe ich sinngemäß geschrieben, müssten von der katholischen Kirche ein bisschen Trauerkultur lernen. Dort gibt’s ein Begräbnis, bestimmte Gedächtnistage, die Jahrtage, aber dann ist Schluss. Es muss doch weitergelebt werden, und zu viel nachtrauern ist irgendwann beleidigend für jene, die Langers Vermächtnis vom „Macht weiter, was gut war!“ tatsächlich weitermachten.

 

Was ich schrieb, führte unvermeidlich zu einigen Beleidigungen. Manch einer tat grad so, als hätte ich Alexander Langer posthum noch einmal umgebracht. Langers Frau Valeria hingegen dankte mir für den Artikel. Und die Freundschaft, die mich und meine Familie mit ihr seither verbindet, geht auf jenen ff-Kommentar zurück. Zum Zehnjährigen schrieb ich die erste Biografie, „ein Alexander Langer-ABC“. Zu dem Zeitpunkt waren schon ein halbes Dutzend Langer-Bücher am Markt. Inzwischen sind Langer-Bücher Bibliothek. Langer-Filme gibt’s, eine Oper („Alex Brücke Langer“, wird nicht in die Musikgeschichte eingehen), Langer-Comics sogar. Zum 10jährigen leistete sich seine Heimatstadt Sterzing einen „Alexander-Langer-Platz. Ein Platzl nur, um ehrlich zu sein, aber es war Südtirols erste Widmung für den ehemals als Landesverräter und Volksverhetzer Verunglimpften.

 

Seither haben sich die Widmungen, Nennungen und Ehrungen ins Unzählbare verloren. Alexander Langer zu ehren (mit Straßen-, Saal- und Club-Benennungen), gehört in mittelinks-verwalteten Kommunen Italiens zur political-correctness. Langer zu kennen, gilt unter Parlamentariern als Bildungs-Muss. So viel ungeteilte Wertschätzung wie ihm, der nie im italienischen Parlament war, wird allenfalls noch Enrico Berlinguer erwiesen. Dieser ist vor 30 Jahren verstorben. Auch plötzlich, wie Langer, wenn auch nicht freiwillig. Kommenden 3. Juli bekommt unser Landsmann eine schöne Parkallee in Rom gewidmet. Der Erzbischof von Mailand, Angelo Scola, führt mit dem früheren Bürgermeister von Venedig, Massimo Cacciari, philosophisch-theologische Alexander-Langer-Dispute. Matteo Renzi hat seine Antrittsrede als Regierungschef mit einem Langer-Zitat eröffnet. Und – ich glaube es zwar nicht, aber Adriano Sofri, Langers bekanntester Weggefährte aus wilden Lotta-continua-Zeiten, will wissen, dass „der wirkliche Inspirator“ zu Papst Franziskus’ Enzyklika „Laudato si’“ Alexander Langer sei. Um zu sagen: Der einst Unsägliche adelt heute jede Kanzel.

Neulich, als die Tageszeitung ein Interview mit der bekennenden Langer-Anbeterin Claudia Roth, grüne Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, mit der Aussage überschrieb: „Alex ist unersetzlich“, drängte dies einen vormaligen Südtiroler-Freiheit-Gemeinderat von Brixen zu der Mahnung: „Man sollte Langer in Frieden ruhen lassen“. Der Ratschlag war sicher ehrlich und frei von Eifersucht gemeint. Doch er wird unbefolgt bleiben. Langer wird immer lebendiger. Was zu seinem 20. Todesjahr alles aufgeführt wird, davon sind die Veranstaltungen zu und um den 3. Juli nur ein Vorgeschmack. Die Vigil erlebten wir vor drei Wochen im Europäischen Parlament in Brüssel: mit Reden des Parlamentspräsidenten und Außenministers (unter anderen). Landeshauptmann Kompatscher war auch da. Letzte Woche beging das Parlament in Rom einen Langertag, am 3. Juli wird es einen nächsten geben. Die ersten zehn Juli-Tage zieht die Langer-Karawane im Gedächtnis an ebenfalls 20 Jahre Massaker von Srebrenica nach Bosnien. Von weiteren Büchern und Filmen ganz zu schweigen. Einflussreichere Gestalten der Südtiroler Zeitgeschichte, Autonomieväter wie Silvius Magnago oder Alfons Benedikter etwa, dürfen eifersüchtig sein. Bei all ihren bleibenden Verdiensten, ihnen scheint, je länger sie tot sind, eher Frieden beschieden als wachsende Bewunderung. Die Legendenbildung

 

Was mag der Grund sein für Alexander Langers offenbare Unsterblichkeit? Warum so viel Bewunderung für so wenig Macht? Denn nüchtern betrachtet, Langers politischer Weg war doch weitgehend von Misserfolgen gepflastert. Das eine Landtagsmandätchen zuerst, später grad zwei? Solches haben Landespolitiker von weit bescheidenerer Statur auch erreicht. Die Anti-Volkszählungs-Kampagne? Ein Kreuzzug mit vielen Opfern und ohne das Ziel zu erreichen. Der brillanteste Kopf und größte Schwerarbeiter, der Vielsprachige, Unwiderstehliche, der mit den meisten Bekanntschaften und der dichtesten internationalen Vernetzung – dennoch: Vor jedem neuen Wahltermin stand seine Bewegung vor Aufhören oder Neubeginn. Es wuchs spärlich um ihn und hinter ihm. Langer säte viel, aber erntete vergleichsweise wenig. Die Wahl zum Bürgermeister von Bozen, es stimmt, scheiterte an seinen Idealen, die zu verraten er nicht bereit war. Aber hätten ihn die paragrafenversessenen Autonomiewärter gewähren und also kandidieren lassen: Oje! Es wäre ein Debakel gewesen. Nur der „verbotene“ Bürgermeister Langer konnte zum Mythos werden. Die Mythenbildung bemächtigt sich lieber der Gescheiterten. Ein tragischer Tod ist ihr wirksamstes Treibmittel. Was eine richtige Oper sein will, endet mit dem Tod des Helden. Immer. Nicht gestorben und froh bis heute noch gelebt wird nur in der Operette.

 

Wäre Langer leibhaftig auferstanden und hätte diesmal kandidiert, es spräche viel dafür, dass er Bürgermeister von Bozen geworden wäre. „Heute ja“, würde jede Umfrage bestätigen. Sie bringt uns auf eine häufig anzutreffende Beobachtung: „Der Langer hatte Recht“. Ob gegen Sprachgruppenerklärung, ethnischen Proporz oder für „langsamer, tiefer sanfter“ und gemeinsame Schule, – eine vermutlich weit ins SVP-Lager hineinreichende Südtiroler Minderheit ist heute bereit, dem Gottseibeiuns von einst Recht zu geben. Was Langer doch alles gegen wüstesten Widerstand erfolglos gefordert hat! Heute gewährt es die Volkspartei herwärts. „Er war halt zu früh dran, die Zeit war nicht reif“, wird das eigene Besserwissen von damals entschuldigt.

 

Es ist ein Missverständnis. Wer Neues will, ist für die Mehrheit immer „zu früh“ dran. Sonst ist es nichts Neues. Und wer Neues will, wird immer minderheitlich sein. Neues ist zunächst nie mehrheitstauglich. Nun ist es so, dass Alexander Langer tatsächlich eine ausgeprägte Schwäche für minderheitliche Positionen hatte. Wie sehr sein Anspruch von einem geradezu überreligiösen Ökumenismus getragen war („kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid!“) – von marianischer Kongregation auf über die soziale Revolution und bis zur Friedensmission am Balkan, so minderheitenverliebt war sein praktisches Engagement: kleine Gruppen, kleine Zeitungen, abgelegene Schauplätze, Außenseiter. Und am Ende oft allein.

 

Mehrheit war ihm vermutlich zu minder. Es ist bezeichnend, dass die Gründergeneration des Heimatbundes (Hans Stieler) dem ideologisch und südtirolpolitisch völlig gegenteilig gewickelten Langer stets mit Hochachtung begegnete. Was dieser übrigens mit genauso unverhohlener Sympathiebekundung erwiderte. Es war, außer dem gemeinsamen großen Gegner, die Wahlverwandtschaft unter Jungfräulichen. Langers erster großer Beitrag für die Zeitung „Lotta continua“, deren Chefredakteur er später wurde, war dem Banditismus der sardischen Hirten gewidmet. Deren (natürlich illegales und hoffnungsloses) Aufbegehren gegen die feindliche Staatsmacht beeindruckte den jungen Revolutionär, und folgerichtig vermochte er sich auch nicht dem anarchischen Charme unserer Bumser zu entziehen.

 

Die Legendenbildung ist voll im Gang. Nicht ausgeschlossen darum, dass wir auf eine Nationalheldenwerdung Alexander Langers zusteuern. Die Zeichen weisen in die Richtung. Die Alex-Konjunktur wird von außen befeuert. Italien sowieso, aber auch Europa stößt auf der Suche nach Identifikationsfiguren auffällig oft auf den Südtiroler. Und Südtirol ist empfänglich für – wie heißt es auf Werbedeutsch: ja, Testimonials. Mit vielen langerschen Botschaften hat das Land bereits Frieden geschlossen, hat sie vereinnahmt, wirbt sogar damit: die Mehrsprachigkeit, die Interkulturalität, die Grenzlandlage als Brücke, die Biodiversität. Wird nichts dauern, dass der Prophet selber auch amtlich rehabilitiert wird. Auch der Andreas-Hofer-Kult wurde von außen nach Tirol hereingetragen, und wie bei Nationalhelden unvermeidlich: Sie werden verklärt, verkitscht und wenn’s gut geht, nicht zu sehr vergewaltigt. Nicht auszuschließen, dass Jugendliche so selbstverständlich wie Che-Guevara-T-Shirts dereinst Alexander-Langer-Leibchen tragen. Sein Brillengesicht mit den Eichhörnchen-Zähnen eignet sich hervorragend dafür.

 

Zum Schluss die Frage: Was haben wir von Langer, außer die immer und noch nie genug bemühten „Zehn Gebote fürs Zusammenleben“ und die Erkenntnis von der „ökologischen Wende, die sich nur durchsetzen wird, wenn sie auch sozial wünschbar erscheint“? Ein Beispiel sicher dafür, was ein Mensch für Ideen haben kann. Und dafür, was er imstand ist zu tun, um sie zu verwirklichen. Der Meister hat es uns leicht gemacht: Er hat uns seine Ideen alle schriftlich hinterlassen. Wir brauchen ihn nur zu lesen. Und das geschieht auch. Kein Jahr seit seinem Tod, dass mich nicht ein junger Mensch anspricht, der seine Diplomarbeit über Langer machen will. Zur Nachahmung freilich möchte ich Langer niemandem je angeraten haben. Am Langer-Gedenken stört mich, dass dabei häufig sein Scheitern, das Ende, ausgeblendet bleibt. Das ist Fälschung.

 

Deshalb nun ganz zum Schluss: Die Alexander-Langer-Stiftung und ihr Perpetuum mobile, Edi Rabini, haben die Langer-Verwertung, alle gegenteiligen Spötteleien widerlegend, am besten hingekriegt: Sie reden nicht mehr über Langer, sie tun nur. Vergangene Woche wurden im Parlament die diesjährigen Langerpreisträger geehrt: drei Jugendliche in Vertretung der Aktion „Adopt Srebrenica“. Dabei wurde ein Film gezeigt. Über den mühevollen Wiederaufbau und die Wiederbefriedung im bosnischen Srebrenica, wo eine Woche nach dem Tod Langers, der dort Frieden stiften wollte, über 8.000 Menschen von bosnisch-serbischen Milizen abgeschlachtet wurden. In diesem Film fiel nie der Name Alexander Langer. Er war gegenwärtig im Werk der Überlebenden.

Florian Kronbichler, Artikel veröffentlicht in der aktuellen FF Nr.26 (25. Juni 2015)


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