Florian
Kronbichler


Das Glück der Einfachheit – ein Nachruf auf Franz Thaler

 

So wie Franz Thaler war, hätte er nach seinem Begräbnis, beim „Mahlele“, auf das er sicher nicht verzichtet hätte, die vielen Beileidsbekundungen auf ihn mit einem trockenen Scherz quittiert. „Eine schöne Entschädigung!“, hätte er wahrscheinlich gesagt.

Der Franz, der schon in der Sterbefabrik der Nazis deponiert war; der so früh und so oft hätte sterben müssen; um den herum die Menschen verreckten wie Fliegen; der sich mehrmals selber schon gestorben vorstellte – dieser wie ein Wunder überlebende Franz starb letzten Donnerstag mit 90, und das wie! Friedlich, „zufrieden“, sagte er als letztes noch. Im eigenen Bett, schmerzfrei, die ganze Familie um ihn, gestorben am Alter – ein Bild muss es gewesen sein, wie fromme Künstler es vom Vater Jakob der Bibel gemalt haben.

Und dann erst das Begräbnis, am Samstag, Allerheiligen-Vorabend, im Friedhof seines Heimatdorfes Reinswald im Sarntal. Eine Feier, gemessen an der Bekanntheit und Symbolkraft des Verstorbenen, von geradezu demonstrativer Schlichtheit. Jeder organisierte Pomp (abgesehen davon, dass die Thalers ihn sich verbeten hätten),hätte sich lächerlich gemacht, angesichts der Naturkulisse ringsum. Ein Spätherbstnachmittag, schön wie keiner. „Kreuzwetter!“, hätte der Verstorbene dazu gesagt.

An solchen Tagen ist Franz Thaler sein Lebtag lang gern aufgebrochen aufs Latzfonser Kreuz. Das Kirchlein am Joch oben an der Bergscheide zwischen Sarntal und Eisacktal war sein Wallfahrtsort. Hundertmal ist er dort hinaufgepilgert. Nicht nur zu beten, das auch, aber das Gesellige gehört genauso zum Pilgertum, und der Franz hielt sehr auf Tradition.

Ja, gestorben wie der biblische Vater Jakob und begraben bei „Kreuzwetter“. Das war es, was Franz Thaler gemeint hätte mit „schöne Entschädigung!“. Entschädigt für einen Abschnitt seines Lebens, einen winzig kurzen Abschnitt gemessen an dem langen Leben, für den Franz Thaler den Südtirolern zum wandelnden Gedenken an die Bestialität einer Ideologie geworden ist.

Von Franz Thaler, der Symbolfigur des (nicht großartig gewesenen) Südtiroler Widerstands gegen Nazismus und Kriegsterror, muss nichts mehr erzählt werden. Sein Büchlein „Unvergessen“, erschienen vor bald 30 Jahren, ist mittlerweile mehr verbreitet, gelesen und verwertet als jede andere Tirolensie. Das Franz-Thaler-Schicksal ist heute Südtiroler Allgemeinwissen, und man darf das Land dafür loben. Es hat sich sagen lassen, was Thaler sich zu seinem lebenslangen Testament gemacht hat: verzeihen okay, aber „nicht vergessen“. Südtirol hat keine große anti-nazifaschistische Widerstandskultur, im Gegenteil, aber es hatte das Glück, einen Franz Thaler und noch ein paar wie ihn gehabt zu haben. Eher unverdient das Glück, aber Glück ist erlaubt, und, dem Land zur Ehre sei’s gesagt, Südtirol versteht sich darauf, sein Glück zu ergreifen.

Warum Franz Thaler mehr als Verdienst ein Glück für Südtirol war? Weil er kein Held war; weil ihm seine Lebensleistung eher passierte, als dass er sie erbrachte; weil er so unwiderstehlich normal war. Franz Thalers Schicksal und was er daraus machte, ermöglichte es den Südtirolern, sich von ihren Geschichtslügen zu befreien, ohne damit überfordert zu werden.

Wäre Franz Thaler ein Politiker gewesen, ein Prediger oder ein Historiker, und hätte er sein KZ-Schicksal zur Fackel für Versöhnung und Frieden gemacht, was wäre er für dieses Land geworden? Ein anderer Alexander Langer allenfalls. Ein Störenfried, zu Lebzeit zumindest. Um es posthum zum Mythos zu bringen, wie der eine, hätte dem Sarner außer der internationalen Bekanntheit die Dramatik der Art des Todes gefehlt. Nein, ein missionierender Franz Thaler wäre die Widerlegung dessen gewesen, den jetzt alle mögen und ehren.

Südtirols Glück ist Franz Thalers außerordentliche Selbstverständlichkeit. Diese war sein Reiz und nur nur machte es möglich, dass das Sarnermandl schließlich auch von jenen Anerkennung gezollt bekam, die insgeheim gegen ihn keiften, weil er ihnen ein wandelnder politischer Vorwurf war. Um es mit einem heute gängigen Begriff aus der Sozialtherapie zu sagen: Franz Thaler war die niederschwellige Rehabilitation der Südtiroler vom Nazitum.

Da ist zuallererst Franz Thaler, der Nicht-Held. Heroisierungen, wie wir sie in diesen Tagen allseits zu lesen bekommen, sind wie so vieles gut Gemeinte durchwegs das Gegenteil von gut. Nichts an Franz Thaler war heroisch. Er war im KZ Dachau, was schlimm war, aber lang nicht das schlimmste aller KZe. Er schildert in seinem Büchl Zustände und Leiden, die zu Tränen rühren oder Hass erwecken können. Aber im Vergleich zu dem, was wir von Auschwitz-Birkenau wissen, sind es Episoden. Thaler hat nie groß getan mit seinem Opferschicksal.

Franz Thaler w a r mehr, als dass er t a t. „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir. Amen.“ Dieses Luther-Wort trifft auch auf unsern Sarner zu. Er hat das Schicksal, das ihn bekannt und für uns so wertvoll gemacht hat, nicht gesucht, er hat es ertragen. Tapfer und ohne um Anerkennung oder gar Entschädigung zu fechten. Er hat sich seinem Glück gewissermaßen ergeben. Er blieb, was er war, er sagte, was er dachte (eine Weile lang sehr zum eigenen Nachteil, später mit der Freiheit, die ihm seine Bekanntheit bescherte), und Ehrungen nahm er gleich unaufgeregt und selbstverständlich an, wie er Anfeindungen wegsteckte. Überlebende Nazi hieß er weiter unbefangen Nazi („Nazzi“ sagte er), und dass die Italiener Südtirols natürlichen Feinde wären, so eines Gedankens war der letzte Sarner in Tracht schlicht nicht fähig.

Ob die Ehrenbürgerschaft der Stadt Bozen, ob Pressepreise, ob der Besuch des Landeshauptmanns Kompatscher zu seinem 90. Geburtstag am 6. März im Sarner Spital, ob die Botschaft des Staatspräsidenten Mattarella heuer an Ferragosto zum 70-Jährigen seiner Rückkehr aus Gefangenschaft und Verfolgung, – Franz Thaler hat sich über solch prominente Aufmerksamkeiten gefreut, aber nicht sichtbar mehr als über Begegnungen mit ganz normalen Leuten oder über die vielen Einladungen in Schulklassen, zu Gedenktagen oder Kundgebungen. Wo er geladen war, und wenn er es derpackte, ging der Franz hin. Er tat nicht, er gab sich her.

Das war schon mit seinem Buch „Unvergessen“ so, das das Phänomen Franz Thaler begründete. Es wurde ihm abgerungen. Abgerungen von seinen Töchtern Brigitte, Leni, Edith und Heidi, dem Priester Balthasar Schrott, dem Lehrer Franz Pfattner und Leopold Steurer, dem Historiker. Mit seinem trockenen Humor, darin übertroffen nur von seiner Frau Anna, und einem Schuss Eitelkeit erlaubte er sich, über jede Aufwartung sich zu „wundern“, und gab ihr nach.

Unvermeidlich so, dass mit zunehmender Ergiebigkeit des „Helden“ der Vorwurf aufkam, der Thaler werde „vereinnahmt“. Die Verdächtigung fällt auf jene zurück, die sie in Umlauf setzen. Sie entspringt den Eifersüchteleien unter Franz-Thaler-Verehrern. Franz Thaler kann nicht vereinnahmt werden. Positiv ausgedrückt: Er verweigerte sich niemandem. In einem politisch ökumenischen Sinn gehörte er allen. Das störte mitunter manche, ihn selber entschieden nicht.

Man darf jetzt gespannt sein, wie es weitergehen mit Südtirol und seinem Franz Thaler. Wird sich die Mythenbildung in Gang setzen? Bricht sich eine Heiligsprechung Bahn? Eher beides nicht. Um im Bild zu bleiben, am ehesten könnte dem gläubigen, listig humorvollen, ein bisschen anarchischen Sarner eine Selig-Heinrich-von-Bozen-Karriere blühen. War auch nur so ein einfacher Knecht, der kirchlichen Obrigkeit zu minder, aber um zu vermeiden, dass die Verehrung des einfachen Volkes nicht außer Kontrolle gerate, wurde der zu Padua verstorbene Poverello aus Bozen ein bissl heilig, eben nur selig, gesprochen. Der Franz, würde es ihm passieren, wüsste bestimmt einen Sarner Schmäh drauf.

Florian Kronbichler

Bozen, Allerseelen 2015


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