Zu Besuch bei „der Nanne“
Immer wenn es sich ausgeht, um diese Ferienzeit, fahren wir einmal zur „Nanne“ nach Prettau. Sie heißt mich dann ihren „letzten übrig gebliebenen Freund“. Die „Nanne“ heißt bürgerlich Anna Nothdurfter Stolzlechner, ist inzwischen 93, immer noch selbstständig, lebt in ihrem Häuschen in Kasern, dem hintersten Weiler des Tales auf 1600 m., und sie die Mutter der Südtiroler Opposition zu heißen, ist keine Übertreibung.
Die achtfache Mutter war Mitte der 1970er Jahre schon stellvertretende Vorsitzende der Südtiroler Fortschrittspartei des Egmont Jenny, engagierte sich dann in der Sozialdemokratischen Partei Südtirols, bis sie sich später der Bewegung um Alexander Langer näherte. Sie saß, ach was!, sie kämpfte im Gemeinderat von Prettau. Wo immer sie auftrat, vor Ämtern, im Autobus, in Versammlungen oder am Gasthaustisch, bei allen Gegnern hinterließ „die Nanne“ ein Gefühl zwischen Respekt und Bewunderung.
Die Frau, die fließend Italienisch spricht und leidlich auch Englisch und Französisch versteht, spricht reines Deutsch auf schönstem Tölderisch, was ihrem scharfen Urteil zusätzlich Gewicht verleiht. Ihre Sprache nimmt die Nanne von dort her, wo sie lebt und was sie erlebt hat. Alles Politchinesisch ist ihr zuwider, so wie sie sich auch nie an Parteigrenzen hielt. Im Zweifelsfall für den Schwachen, das war ihr Devise genug. In der Wahl der Mittel so wie der Verbündeten, mit denen sie ihr Ziel zu erreichen suchte, war sie nie wählerisch. Eine Zeitlang wählten die Prettauer die Nanne zu ihrer Fraktionsvorsteherin und Almmeisterin. Dass sie eine landbekannte Oppositionelle war, störte die Bauern nicht. Sie schätzten an ihr die Mutter Courage: den ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, ihre Rechtskenntnisse (Nanne hatte das Amtsblatt der Region abonniert) und die Resolutheit, mit der sie vor Ämtern und Amtspersonen auftrat.
Die aktive Politik ist bei der Nanne schon lang Vergangenheit. Sie interessiert sich dafür, einmischen tut sie sich nicht mehr. Mit ihr zu sprechen, ist jedes Mal Vergnügen und Gewinn. Es spricht inzwischen eine weise Frau. Alles verstehen, heißt alles verzeihen. Solche Sinnsprüche hat sie parat. Sie ist gläubig, aber kein bisschen frömmelnd. Milder ist sie geworden, altersmilde, das Wort in seiner Schönheit verstanden. Die Sprache hat die Schärfe von ehedem bewahrt, und der Verstand genauso. Im letzten Winter ist sie einmal gestürzt und hat sich allerhand verletzt. Als ich sie anrief und aufmunternd feststellte, sie klinge aber fit und wach, antwortete die Nanne: „Ich bin ja nicht auf den Kopf gefallen“.
Nicht auf den Kopf gefallen. Die Nanne liest die Zeitungen, die sie vom Gasthaus nebenan weitergereicht bekommt, löst Kreuzworträtsel, kommentiert die Fernseh-Nachrichten. Vor das Haus geht sie in der Hochsaison nur „ganz früh, wenn die Touristen noch nicht da sind, oder spät, wenn sie wieder weg sind.“ Leutescheu? Oh nein, es sei wegen „der Fratschelei“ und dem „ewigen Gegrüße“. Mutter Courage will ihre Ruh.
Florian Kronbichler