Florian
Kronbichler


Türkeiwahl: Die Erdogan-Überdosis

Für aufmerksame Beobachter sind wir zu spät gekommen. Der eigentliche Schwindel hat schon stattgefunden, und wir beobachten nur noch die Folgen. Es sei denn, es kommt, wie nicht nur hoffnungslose Berufsoptimisten sich immer sicherer sind, sondern auch neutrale Beobachter von außen es voraussagen: „Nie war Wende so wahrscheinlich“, schrieb sogar der „Spiegel“ diese Woche. Es wäre dann die Verwirklichung des „je schlechter, desto besser“. Wir können nur staunend abwarten.

Wir, das sind Parlamentarier aus ganz Europa und den Vereinigten Staaten, an die 100 an der Zahl, die im Namen des Europarats, der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) und der NATO als „Beobachter“ der Parlaments- und Präsidentenwahl seit gestern in der türkischen Hauptstadt Ankara sich auf unseren Einsatz vorbereiten. Sonntag wird gewählt. Gewählt werden 600 Parlamentarier und ein Staatspräsident, aber gehen tut es nur um einen: Recep Tayyip Erdogan ja oder nein. 60 Millionen Türken sind wahlberechtigt.

Drei Millionen Auslandtürken haben schon gewählt, die Hälfte davon in Deutschland, und die allgemeine Einschätzung ist, sie haben sehr mehrheitlich Erdogan ja gewählt. Wenn wahr ist, was man uns hier erzählt, hätten wir eher nach Dortmund, Düsseldorf oder Berlin fahren müssen, um zu „wahlbeobachten“. Kein Mensch habe dort an den Konsulaten kontrolliert, ob schon auch jeder Wähler einen türkischen Pass trägt, ob die Stimmzettel durchgestempelt waren und Kuverts geschlossen sind. Schlimmer kann es ganz „hinten in der Türkei“ (Goethe, Faust) gar nicht kommen.

Erdogan weiter so oder doch nicht mehr? Den ganzen Freitag über haben wir Regierungsvertreter und Nichtregierungsorganisationen getroffen, mit Journalisten gesprochen, soweit solche nicht in Haft sind und sich getrauen, ihre Meinung zu sagen. Es gibt von diesen gar nicht wenige. Wir hören reihum, neun Zehntel der Fernseh-Sender sind direkt oder indirekt in Regierungshand. Bei den Zeitungen sieht es nicht viel besser aus. Nur noch 2 TV-Anstalten und drei-vier Zeitungen werden dem Oppositionslager zugerechnet. Seit dem Ausnahmezustand, der seit dem August 2016 nun bald 2 Jahre anhält, gab es einen medialen Kahlschlag: 33 TV-Sender, 37 Radios, 35 Zeitungen, 4 Presseagenturen geschlossen, immer noch 120 Journalisten in Haft. Erdogans Ausnahmezustand macht es möglich.

Erdogans autoritärer Durchmarsch macht auch alles möglich. Zum Beispiel dieses: Als ich gestern spät abends in Ankara ankam und im Hotelzimmer den Fernseher anmachte, lief das WM-Spiel Argentinien-Kroatien. Zeitversetzt in Wiederholung. Und was sehe ich da? Unterbrechungen wie bei den elenden Talkshows auf italienischen Sendern. Zwei-drei-minütige Werbespots für Erdogan, den „Präsidenten“, den „Vater“, den „Beschützer“ und und und. Erdogan allzeit und allerorts. In diesem Moment läuft Nigeria-Island, direkt, und zur Halbzeitpause: Erdogan. Eine Schwalbe fliegt über türkische Landschaften, unwiderstehlich schön, immer prächtiger, untermalt mit patriotischen Klängen. Immer weiter übers Land. Am Ende: steht er, Erdogan und, nein, nimmt die Schwalbe nicht in die Hände, was man sich nach soviel Pathos erwarten könnte, nein, er grüßt den Vogel und weist ihm mit der Hand, ja, die Richtung – immer weiter so!

Das ist die Türkei, Europas zweitgrößtes Land (nach Russland), vor dem Wahlsonntag. Wer an Wirkung von Werbung glaubt, muss am Ergebnis nicht mehr zweifeln. Warum aber dann, warum herrscht nicht nur in der Türkei, sondern in ganz Europa seit Wochen schon eine ganz andere Stimmung. Es herrscht Wendeglaube. Erdogan, heißt es, kann sich gar nicht mehr sicher sein, dass er die von ihm mutwillig vom Zaun gebrochene vorgezogene Wahl gewinnt. Er dürfte mit seiner AKP-Partei Mehrheit bleiben, aber schon dass er – bei Nichterreichung der absoluten Mehrheit – in die Stichwahl gegen seinen sozialdemokratischen Herausforderer Ince müsste, wäre für ihn Schmach und Demontage.

Warum solches, bei so viel Wahlwerbemonopol? Bei so absoluter Ausnahme-Unverschämtheit? Offenbar gibt es einen Wahlwerbe-Überdruss. Die Leute murren. Sagen, „uns reichts“. Die Preise steigen, die Arbeitslosigkeit auch. Patriotische Parolen kein Dauermittel gegen sinkenden Wohlstand. Die Türken beginnen der Propaganda überdrüssig zu sein. Die Erdogan-Überdosis könnte sich gegen den Potentat selber kehren. Und die Armseligkeit der Opposition sich als deren plötzliche Stärke erweisen.

Sonntag wird erst einmal gewählt. Ich fliege morgen ins hinterste Anatolien, in die Provinz Erzurum und weiter südlich, dort wo die Türkei an Armenien, Syrien und den Iran grenzt. Wo Kurden leben und zweieinhalb Millionen Kriegsflüchtlinge in Lagern leben, weil die Türkei sie um einige Milliarden Euro von uns West- und Mitteleuropäern fern hält. Wünschen wir den Türken, samt Kurden, eine gute Wahl.


Flor now
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