Florian
Kronbichler


Das soziale Gewissen (geschrieben für ff und veröffentlicht in der Nummer dieser Woche)

Arbeiterpriester, Gewerkschafter, KVW-Assistent, Publizist. Für seine Verdienste vielfach ausgezeichnet, gilt der gebürtige Vinschger unstrittig als das soziale Gewissen Südtirols. Josef Stricker wird am Josefitag 80 Jahre alt. Zum Geburtstag ein Wandergespräch.

Florian Kronbichler: Lieber Sepp, 80 Jahr! Priester, Gewerkschafter, KVW-Assistent, dazu Lehrer, Publizist – wenn du zurückdenkst, würdest du das noch einmal machen?

Josef Stricker: Weiß ich nicht. Doch die Frage stellt sich nicht. Ich war immer neugierig auf Neues. Und rückblickend darf ich dankbar sagen, ich habe eine abwechslungsreiche Biografie.

Fehlte eigentlich nur noch ein Abstecher in die Politik.

Mein Freund Luis Pichler hat in den 80er Jahren den Schritt gemacht und für den Bozner Gemeinderat kandidiert. Ich war damals nicht glücklich damit und hätte es selber nie getan. Nein, ich wäre nicht geeignet für ein politisches Mandat. All dieses Politikergerede! Ich kenne das – reden, reden, und keiner hört zu.

Ich kenne die Reden und Diskussionen in den Gewerkschaften. Unterscheiden sich kaum von denen in der Politik, im Gegenteil.

Oh doch! Es geht in der Gewerkschaft um sehr Praktisches. In den Gewerkschaftszentralen mag auch viel geschwätzt werden, aber ich hab mich immer mehr um die Arbeit draußen gekümmert. Die Menschen in der Fabrik, der Kontakt mit der Basis. Die Arbeiter informieren, ihnen ihre Rechte erklären, Perspektiven aufzeigen, Betriebsabkommen schließen, darin sah ich meine Arbeit.

Du saßest doch auch in vielen Landeskommissionen. Zusammen mit Politikern.

Das hat sich ergeben. Aber es war mir zu keiner Zeit die liebste Tätigkeit.

Deine liebste Tätigkeit als Gewerkschafter war das Aushandeln von Betriebsabkommen. Dafür bräuchte es dich heute wieder ganz besonders.

Die 1970er Jahre waren eine Hochkonjunktur für die Gewerkschaften. Es gab gute Kollektivverträge und in Südtirol war es verhältnismäßig leicht, Betriebszusatzverträge abzuschließen. Inzwischen sind die Gewerkschaften längst in der Defensive, um nicht zu sagen, in einer Depression. Nein, ich kann den Kollegen von heute keine Vorwürfe machen. Sie haben es schwerer.

Inzwischen macht sogar der Landeshauptmann den Gewerkschafter. Er hat die Unternehmer aufgerufen, sie sollten die Löhne anheben.

Ach, das war aber ein wohlfeiler Appell. Das Problem in Südtirol sind gar nicht die schlechten Löhne. Es sind die großen Unterschiede bei den Löhnen. Über Durchschnittslöhne zu reden, sagt nichts. Die Wahrheit ist, dass die Unternehmer die Kollektivverträge niedrig halten wollen, um so Spielraum zu haben, die Löhne individuell mit den einzelnen Arbeitnehmern zu verhandeln.

Das heißt, das Lohnniveau in Südtirol ist besser als sein Ruf?

Es wird durchwegs besser bezahlt, als in den Statistiken aufscheint. Etwas anderes ist gar nicht möglich, bei dem leergefegten Arbeitsmarkt, den wir haben. Freilich, nur vertragsstarke Arbeitnehmer handeln mit Erfolg. Die anderen werden mit Erfolg abgehängt. Genau deswegen sind Kollektivverträge unverzichtbar.

Dann geht’s eigentlich nur der Gewerkschaft schlecht. Die Arbeiter erstreiten sich Lohnerhöhung ohne sie?

Aber lang nicht alle. Die Gewerkschaft steckt ganz eindeutig in einer Identitätskrise. Normative Verbesserungen durchzusetzen, gelingt ihr schon eine Weile nicht mehr. Phänomene wie prekäre Arbeitsverhältnisse oder Scheinselbständigkeit sind mit den traditionellen Kampfmitteln nicht mehr in den Griff zu bekommen. Massenstreiks, Großkundgebungen – es fehlt die Kraft dafür.

Es ist kein Mittel mehr, wenn’s nicht …

Nein, von oben her wird’s nicht kommen. So haben sich die Gewerkschaften, wie übrigens Sozialverbände wie etwa der KVW auch, halt auf die Dienstleistungen gestürzt. Sie sind Dienstleistungsbetriebe geworden, machen Steuererklärungen, helfen Lohnstreifen lesen, füllen Wohnbau- und Mietenbeitragsgesuche aus. So halten und steigern sie ihre Mitgliederzahlen. Ist alles hilfreich, Gewerkschaftsarbeit, wie ich sie verstehe, ist es nicht.

Und in diesem Verein hast du es 26 Jahre ausgehalten?

Sagte ich doch, es war schon einmal besser. Ich hatte das Glück, Landessekretär der Metallergewerkschaft zu ihrer vielleicht besten, jedenfalls produktivsten Zeit zu sein. Das war von 1975 bis zum meiner Pensionierung 2001. Danach nahm ich den Auftrag der Kurie an, geistlicher Assistent des KVW zu werden.

Und machtest weiter den Gewerkschafter, nur noch mehr. Sag, um einen Ratschlag gefragt, was würdest du dem KVW und dem SGB-Cisl sagen?

Beiden würde ich sagen, sie müssen Acht geben, dass sie nicht gänzlich abdriften zu Dienstleistungsbetrieben, wobei sie auf diesem Bereich ja gute Arbeit leisten. Beide müssen mehr gesellschaftliches und sozialpolitisches Profil zeigen. Sie müssen einsteigen in die großen Fragen, die da sind: Globalisierung, Sozialstaat, Überleben der Demokratie. Sie müssen den Kampf aufnehmen gegen die ethische Verwilderung rundum.

Du weißt schon, Ratschläge sind immer auch Schläge, besonders wenn sie öffentlich erteilt werden.

Alles, was ich sage, ist immer auch Selbstkritik. Ich war ja in beiden Organisationen nicht nur zur Hoch-Zeit dabei, sondern im Niedergang genauso. Für beide gilt: Man bleibt im unverbindlich allgemeinen Reden hängen. Wenn ich mir so KVW-Leitsätze vergegenwärtige: „Für Gerechtigkeit und Solidarität“ oder „Der Mensch muss im Mittelpunkt der Wirtschaft stehen“. Wer sagt das nicht?

Gutmenschliche Beliebigkeit.

So ist es: Diese Sprüche sind immer richtig, sagen aber nichts mehr. „Wenn’s der Wirtschaft gut geht, geht’s auch den Arbeitern gut“; „gute Wirtschaftspolitik ist die beste Sozialpolitik“; „was nicht erwirtschaftet wird, kann man nicht verteilen“. Keine Unternehmerversammlung, auf der solche Schlagworte nicht fallen.

Es ist der ethische Minimalkonsens. Darüber kommen Gewerkschaften, Sozialverbände und offenbar auch die Politik nicht hinaus.

Ich sehe in der Tat die Demokratie insgesamt gefährdet. Allenthalben ist nur noch ein Wettlauf um die Lufthoheit über die Stammtische zu beobachten. Die Politik richtet sich nach dem Gerede. Ich kann nur warnen: Die Volksparteien sind schlecht beraten, wenn sie glauben, sie müssten den rechten Schreiern nachlaufen. Sie werden den Konkurrenzkampf mit diesen verlieren. Sie dürfen nicht die Auseinandersetzung scheuen und müssen notfalls auch Wahlniederlagen in Kauf nehmen.

Glaubst du, uns ist zu wenig bewusst, wie sehr die Demokratie in Gefahr ist?

Vielleicht liegt es daran, dass wir mit der Demokratie aufgewachsen sind und nicht wissen, wie es ohne wäre. Wir müssen uns fragen: Wie viel sozialen Missstand kann sich die Gesellschaft leisten, bis sie zusammenbricht? Mich ängstigt die Unzufriedenheit in Zeiten des Wohlstandes. Warum pflegen wir ethische Positionen nicht mehr, jetzt, wo wir uns das mehr leisten könnten als je? In der ethischen Positionierung ist heute doch der Bischof am stärksten von allen. Findest du das nicht verwunderlich?

Von wegen Bischof, wie bist du denn dazu gekommen, Priester zu werden?

Das war gar nicht so selbstverständlich. Als Ältester von den Buben wäre ich für die Hofübernahme vorgesehen gewesen. Ich half daheim mit, wie alle. In der Volksschule war ich ein bisschen der Liebling der Lehrerin, und das muss mich wohl ermutigt haben. Jedenfalls vertraute ich mich, daheim am Abend beim Milch-Abtreiben, der Mutter an, ich tät gern studieren gehen. Ihre Antwort war, ich erinnere mich noch genau daran: „Ja, wie stellst du dir das vor? Wie sollen wir das zahlen?“

So bist du mit 11 nach Dorf Tirol ins Johanneum gekommen, und der Priesterberuf war damit vorgezeichnet.

Die Entscheidung war schon zur Dorf-Tirol-Zeit jedenfalls eine fürs Soziale. Ich war beeindruckt von der christlichen Soziallehre und habe Ende der 1950er Jahre mit Begeisterung den österreichischen Sozialhirtenbrief gelesen, an dem vor allem der damalige Innsbrucker Bischof Paulus Rusch mitgeschrieben hatte.

Und hat das soziale Gespür zwangsläufig ins Priestertum münden müssen?

Müssen nicht. Natürlich waren da die Tradition, die Vorbilder unter den Lehrern, das religiöse Familienleben, aber auch schon das soziale Gespür für wirkliche Not. Ich erinnere mich an das letzte Kriegsjahr. Der Vater im Krieg, die Mutter schwanger, die Großmutter ein Pflegefall und wir kleinen Kinder. Wir hatten wenig, aber ich erinnere mich nicht, dass je gejammert wurde. Als der Krieg zu Ende war, kamen immer wieder versprengte Soldaten auf Stallwies vorbei. Eine Suppe oder auch ein Nachtlager verweigerte die Mutter keinem. Daran denke ich immer, wenn ich heute, in der Flüchtlingsfrage, das Gerede vom „Das Bot ist voll“ höre. Wir damals konnten uns Unzufriedenheit und Hoffnungslosigkeit schlicht nicht leisten.

Die soziale Frage führte dich zum Priester, willst du sagen.

Ich fiel mit meinem Theologiestudium in Trient in eine ausgesprochen glückliche Zeit, nämlich die des Zweiten Vatikanischen Konzils, eine Zeit des Aufbruchs und großer Hoffnungen auf Erneuerung. Ich wurde zu einem begeisterten Konzilsbeobachter, las Dokumente, theologische Zeitschriften, ich lebte im Hochgefühl, eine neue Zeit bricht an.

1964 wirst du zum Priester geweiht, du kommst als Kooperator nach Mölten, und schon zwei Jahre später, 1966, beauftragt dich Bischof Gargitter zum Vize-Assistenten des KVW. Man stelle sich vor: Vize eines Assistenten! Ein Personalluxus war das damals!

Fürwahr, Priestermangel war zu der Zeit noch ein Fremdwort. Dem Bischof muss mein Interesse an sozialen Fragen zu Ohren gekommen sein, und was Gargitter bescheint werden muss: Er war sich der Dringlichkeit der sozialen Frage im Land bewusst. Als Hilfs-Assistent war ich von Anfang an viel unterwegs im Land und hielt Vorträge zur christlichen Soziallehre.

Bis dir Vorträge auf dem Land bald nicht mehr genug waren. Du wolltest Praxis?

Mein Wissen über die soziale Frage hatte ich, von der persönlichen Kindheitserfahrung abgesehen, aus den Büchern. Es war reines Bücherwissen. Ich hatte von den französischen Arbeiterpriestern erfahren, Priester als Fabrikarbeiter. Ich kannte die Schriften des seinerzeitigen Kardinals von Paris, der die nouvelle théologie bekannter Dominikaner-Theologen förderte. Papst Pius XII. hatte 1954 das Experiment noch verboten. Ich selber hatte bis dahin noch keine Fabrik von innen gesehen. Mich begann das Leben der Arbeiter dort zu interessieren und ich wollte hin.

Und dein Bischof?

Wir waren unser einige und trugen dem Bischof das Anliegen vor. Es war 1968, und du musst wissen, Bischof Gargitter hatte die Konzilserfahrung hinter sich. Er war der Problematik gegenüber aufgeschlossen. So befasste er den Priesterrat mit der Frage, und dieser stimmte zu. Arbeiterpriester „als Experiment“, wohlgemerkt. Ich wurde freigestellt für einen Monat Sommer-Einsatz im Bozner Magnesiumwerk und anschließend für acht Monate im Lancia-Werk. Jeweils in der Gießerei, am Hochofen im Schichtbetrieb, mit Arbeitszeit und Lohn wie jeder gewöhnliche Arbeiter.

Aus dem genehmigten „Experiment“ machtest du dann deinen Beruf. Warum?

Mein Anliegen war es, zu erfahren: Wie wirkt die reale Erfahrung des Fabriklebens auf mich persönlich, und welche Konsequenz hat es auf meinen Glauben? Es sind am Ende gut vier Jahre Erfahrung als Arbeiter in der Fabrik geworden. Anfang 1975 wurde ich dann von der einheitlichen Metallergewerkschaft FLM gebeten, mich für die Gewerkschaftsarbeit freistellen zu lassen. Daraus wurden für mich 26 Jahre gewerkschaftliche Hauptamtlichkeit.

Das allerdings nicht mehr mit Erlaubnis des Bischofs?

Der Bischof hat es geduldet, sagen wir so. Jedenfalls war er so klug, dass er zu keiner Zeit zu irgendwelchen Maßregelungen gegriffen hat.

Hättest du dich solchen gefügt?

Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, wie ich reagiert hätte. Ich vertraute darauf, dass der Bischof im Zug des Konzils eine geistige Wende in meinem Sinn vollzogen hatte. Es gab zu der Zeit große progressive Theologen, Jesuiten und Dominikaner zumal, die von Papst Pius XII. noch gemaßregelt wurden, aber mit Johannes XXIII. dann zu maßgeblichen Beratern des Konzils aufrückten.

Hat dich dieser neue Wind in der Kirche bestärkt in deinem Ungehorsam gegenüber der diözesanen Kirchenführung? Denn Ungehorsam war dein Gewerkschafterleben ja.

Von Ungehorsam möchte ich nicht sprechen. Ich habe mich einem Ersuchen oder einem Auftrag nie verweigert, wenn mich ein solcher erreicht hat. Die Arbeit in der Fabrik und in der Gewerkschaft hat mir geholfen, dass ich von meinem theologischen Systemdenken herabgeholt und geerdet wurde. Die Kirche hat Wahrheiten geliefert, Fragen und Zweifel eher nicht.

War aber die Gewerkschaft zu ihren besten Zeiten wirklich weniger dogmatisch als die Kirche?

In mancher Hinsicht ist die Frage berechtigt. Es war auch viel Ideologie und hohle Rhetorik dabei. Auf Südtirol bezogen kam dann die sehr unterschiedliche Sichtweise zwischen deutsch und italienisch hinzu. Die italienischen Gewerkschafter kannten nur die Bozner Industriezone und schwelgten von Klassenkampf, die deutschen fühlten sich zuständig nur für die Betriebe auf dem Land und predigten, kaum weniger dogmatisch, Sozialpartnerschaft.

Du selber warst deutscher Landessekretär der FLM, einer italienischdominierten und tendenziell radikalen Gewerkschaft.

Stimmt, ich habe jedoch konsequent gegen herrschende Klischees angekämpft. Es gab italienischerseits den Glaubenssatz: Siamo tutti operai, siamo tutti uguali. Einzugehen auf Südtiroler Besonderheiten, dafür fehlten Kenntnis und Bereitschaft. Verbreitet war jenes gewisse herablassende „Verständnis“ mit den armen Südtirolern: die halt keine Gewerkschaftstradition hätten, die Armen, und dafür könnten sie nichts, wir müssen Geduld haben mit ihnen. Gegen derlei ethnisches Besser-sein-Gehabe verwahrte ich mich immer.

Du warst aber selber auch radikaler, linker, als du es heute bist.

Ich sehe im Nachhinein manche vertretene Position kritischer, das mag sein. Doch setzte ich im Zweifelsfall immer das Pragmatische in den Vordergrund.

Geht dir dein Klassenkämpfer-Image heute noch manchmal nach?

Klassenkämpfer-Image? In kirchlichen Kreisen war ich sicher für manche der Radikalinski – kann sein. Aber nur für solche, die nicht mit mir geredet haben.

Die Kirchenleitung, das ist mein Eindruck, hat dich ignoriert, jedenfalls bis zu deiner Beauftragung als geistlicher Assistent des KVW, was bald 20 Jahre her ist.

In der Tat, ich war der kirchlichen Welt weitgehend entfremdet. Man ließ mich gewähren. Der steht eh außerhalb, – das dürfte so die Haltung gewesen sein.

Ich habe anlässlich der Verleihung des Joseph-Gargitter-Preises an dich 2010 in einem Porträt für die Tageszeitung dich den „Seelsorger der verlorenen Schafe“ geheißen. Wer zur Kirche nicht hinfand, kam zu dir.

Es war und bleibt immer mein Bemühen, den Glauben zu erden. Die Theologie herabzuholen aus den Sphären der ewigen Wahrheiten. „Das Christentum ist Lebenshilfe. Wenn es dazu nicht imstand ist, wär’ es in der Tat überflüssig.“ Die Aussage stammt vom Theologen Eugen Biser.

Der Teilnahme am Kirchenleben nach zu schließen, ist die Nachfrage nach solcher christlichen Lebenshilfe eher im Abnehmen.

Stimmt. Die Kirchen werden leerer, und das erschreckt auch diejenigen, die noch hingehen. Niemand hat ein Rezept dagegen.

Erschreckt es dich auch?

Mich bedrückt, dass so lang alles gleich bleibt. Das Priesterbild bleibt das alte …

… hast du ein Rezept?

Es sind die Reformen, über die wir lang schon reden und wo nichts weitergeht. Ein Priestertum auf Zeit etwa, mehr und maßgeblichere Vollmachten für die Laien, auch die Überwindung des Pflichtzölibats.

Der Sonntagsruhe geht’s auch nicht gut. Du kämpfst dafür als Priester wie als Gewerkschafter. Ich halte dir immer entgegen, dass der arbeitsfreie Sonntag nur mit religiöser Begründung zu retten ist.

Da widerspreche ich dir weiterhin. Der Mensch braucht Ruhezeiten, damit er Mensch sein kann, und zwar gemeinschaftliche Ruhezeiten. Es braucht kollektive Unterbrechungen, das ist nicht nur ein religiöser, das ist ein humanistischer Auftrag.

Die gesellschaftliche Entwicklung ist eine andere, ob es uns passt oder nicht.

Ist mir völlig bewusst. Aber ich antworte dir mit dem kürzlich verstorbenen konservativen Philosophen Robert Spaemann: „Alles Humane ist dem Trend abgerungen.“

Das ist jetzt aber tiefer Kulturpessimismus.

Es steckt ein Fünkchen Wahrheit darin. Und im Übrigen, es ist besser, wir bleiben optimistisch. Wenn ich zurückschaue, Südtirol hat doch immer Glück gehabt. Wir müssen nur bewahren, was gut ist.

Sag zum Abschluss und dir zum Geburtstag etwas besonders Gutes über Südtirol!

Ich würde da etwas sagen, was gar nicht geplant war, jedenfalls nicht direkt, sondern uns als günstiger Nebeneffekt einer Entscheidung in den Schoß gefallen ist. Ein Abfallprodukt gewissermaßen. Es ist die Vermeidung von Abwanderung aus den ländlichen Gebieten in die Städte. Dass im Unterschied zu den meisten anderen Berggebieten bei uns die Menschen oben und draußen geblieben sind und dort gut leben, das ist der wertvollste Besitzstand dieses Landes.

Und du nennst es ein Abfallprodukt?

Denk an die 1950 und -60er Jahre, zurück. 40.000 Südtiroler waren schon ausgewandert. Die Täler drohten sich zu entvölkern. Es gab daheim keine Arbeit. Da setzte die Landesregierung, federführend war Alfons Benedikter, auf die Ansiedlung kleiner Fabriken überall in der Peripherie. Gegen sämtliche herrschende ökonomische Vernunft, damals. Für vernünftig galt Urbanisierung, in der Landwirtschaft Rationalisierung. Der Mansholt-Plan steckt als Schreckgespenst noch heute den Bauern im Kopf. Eine Zukunft auf dem Lande war abgeschrieben.

Das Südtiroler Kontrastprogramm kann somit nicht so unvernünftig gewesen sein.

Im Gegenteil eben. Es wirkte mehr und vielfältiger als von seinen Schöpfern beabsichtigt. Denn was wollte die Südtiroler Politik von damals? Sie wollte verhindern, dass die Bauernbuben von ihren Höfen entweder ganz auswanderten oder in die Bozner Industriezone zögen und hier walsch würden, was als noch schlimmer empfunden wurde. Dies um zu sagen: Die periphere Industrialisierung war rein ethnisch begründet. Dass das Land deutsch bliebe, war der Politik jeden Preis wert. Und nicht erst heute, lang schon kann bilanziert werden: ein Erfolg in jeder Hinsicht. Volkstumspolitisch sowieso, aber auch sozial, ökologisch und sogar ökonomisch. Es war ein Segen.

Glück gehabt. Und jetzt, lieber Sepp, wohin jetzt mit unserer Glückseligkeit?

Die Menschen müssen dort leben können, wo sie leben wollen. Das Argument Kosten, vom Zaun gebrochen etwa an den kleinen Krankenhäusern draußen, ist Gerede. Schlanders bliebe nicht dieses Schlanders und Innichen nicht dieses Innichen, wenn sie ihre Spitäler schließen müssten. Es wird in der Politik heute zu rein betriebswirtschaftlich argumentiert. Kostet zu viel! Rechnet sich nicht! Wir müssen alles mitbedenken. Zentralisieren bedeutet oft nicht Kosten sparen, sondern nur Kosten verschieben. Setzen wir nicht das Errungene – ja, ich heiße es Errungenschaft – setzen wir es nicht aufs Spiel.


Flor now
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