Je länger, je Langer
Vor
25 Jahren ist Alexander Langer gestorben. Die „Grundpfeiler“ der
Südtirol-Autonomie, an denen er rüttelte, stehen alle noch. Aber es geht ihnen
nicht gut. Eine Patientenbeschau.
Nehmen wir zum Beispiel den Proporz. Waren das seinerzeit nicht die ethnischen Käfige? Die Volkszählung? Eine zweite Option (nächstes Jahr, 2021, ist die nächste fällig). Die Zweisprachigkeit? Heilmittel für alles. Um nicht zu reden von der muttersprachlichen Schule – ein Trennungs- und Verhinderungsinstrument.
Für die einen sind es „Grundpfeiler“, unverzichtbar für Autonomie und Minderheitenschutz. Einer, der das anders sah, sagte „Säulenheilige“ dazu, was nicht wertschätzend gemeint war.
Es sind jetzt 25 Jahre her seit dem Tod jenes Südtirolers, der an diesen Säulen gerüttelt hat wie vor und nach ihm kein anderer. Alexander Langer war kein biblischer Samson, der den Tempel der Philister einriss. Mit einem Scharfsinn ohnegleichen hat er die Schwachstellen des politisch-juristischen Konstrukts Südtirol-Autonomie bereits vor dessen Inkrafttreten gefunden und aufs Korn genommen. Das ist nachzulesen in seiner Dissertation, mit der 1968, also ein Jahr vor dem Paket-Abschluss, der damals 22jährige Langer bei dem berühmten Verfassungsrechtler Paolo Barile in Florenz zum Doktor der Rechtswissenschaften promovierte. Die Geburtsschwächen der Autonomie von vorn herein zu verhindern oder später auszumerzen, hatte er nicht die Macht. Zumindest fehlte ihm die Zeit dafür.
Am 3. Juli 1995 ist Alexander Langer gestorben. Seither ist ein Abstand erreicht, in dem ohne Übertreibung von geschichtlicher Epoche gesprochen werden kann. Warum deshalb zu diesem runden Jahrtag des bekanntesten Südtirolers (nach Reinhold Messner, muss immer hinzugefügt werden, sonst gibt es Ärger.), warum nicht einmal der Frage nachgehen, wie es seinen überlebenden Säulenheiligen ergangen ist, in dem Vierteljahrhundert seither. Der ethnische Proporz, die Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung, die getrennt muttersprachliche Schule, die Zweisprachigkeitspflicht – wie sind sie heute beinander, diese Unantastbaren?
Sie sind noch alle da, haben alle überlebt, klar, aber wie geht’s ihnen? Für alle vier muss gesagt werden: Sympathischer sind sie uns nicht geworden. Wer heute Südtirol und seine Politik zu verteidigen hat, vermeidet die Begriffe lieber. Wem geht das Wort Proporz noch leicht vom Mund? Und gar ethnischer Proporz? Nur ein Stück weiter nach Norden oder Süden, und einigermaßen demokratisch Sozialisierte zucken allein schon beim Wort zusammen: Proporz? Ethnisch? Darf das noch gesagt werden? Dabei redeten die Väter dieses Südtiroler Eigenbau-Produkts ganz unbefangen noch von volklich, wenn nicht gar völkisch. Alexander Langer machte ihnen das gelegentlich zum Vorwurf, und alle waren beleidigt. Wird man wohl noch … Typisch Langer! Für gescheit ja, aber „volkstumspolitisch total gespürlos“ (Magnago) hielten sie ihn. Von Volksgruppen zu sprechen oder (autonomiepolitisch korrekt) von Sprachgruppen, ist in Südtirol nicht Geschmackssache, sondern Offenlegung eines politischen Standorts.
Die muttersprachliche Schule. Was einmal so schnuggelig klang („Muttersprache, Mutterlaut, wie so wonnesam so vertraut“), bedeutet heute ganz prosaisch einsprachig und gilt als minder. Es heißt deutsch für Deutsche, italienisch für Italiener und (weil von Anfang an gewollt) fifty-fifty für Ladiner. Auf dem Papier steht das weiter so. Eine zweisprachige Schule, wie von vielen und bis weit hinein in die sonst auf Trennung bedachte Volkspartei erwünscht, bleibt „unvereinbar“ mit Art. 19. des Autonomiestatuts. Das ist der Schulartikel. In seiner Eigenwerbung – liebenswürdige Ungereimtheit! – stellt sich „das Land am Scheitelpunkt der zwei großen europäischen Kulturräume“ (Südtirol Marketing) gern, nein, nicht als zweisprachig, sondern gleich als mehrsprachig dar. Wie solch erlogenes Sowohl-als-auch geht, darüber später.
Die Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung richtet sich schon allein des Wortes wegen von selber. Wer mag solchen Zungenbrecher noch in den Mund nehmen. Jedenfalls hat die gesamte politische Klasse aufgejault, als Alexander Langer vor vierzig Jahren (1981 war das) ihre verpflichtende Durchführung auf den griffigen Schlachtruf „Wieder eine Option?“ verkürzte. Es war der schwerste Hieb, den die Hüter der geschriebenen und real existierenden Autonomie abzuwehren hatten. Alexander Langer verstand sich nicht nur darauf, die Schwachstellen aus den Paragrafen des Autonomiesystems zu erkennen, er wusste auch, seinem politischen Gegenüber an die empfindlichsten Stellen zu rühren. Einen „Grundpfeiler“ der Politik Magnagos und seiner Wehrmachtsgeneration mit deren eigenem Sündenfall der Option 1939 in Verbindung zu bringen: Das war Hochverrat.
Der Minderheitenvertreter Langer wurde zum Minderheitenfeind Nummer eins erklärt. „Im Zweifelsfall ist mir Mitolo lieber“ (Viktoria Stadlmayer auf die Frage: Langer oder der Neofaschist). Die verpflichtende Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung, die in ihrem amtlichen Kürzel SGZE um kein Bisschen menschenfreundlicher klingt, wurde im Lauf ihrer bislang 40jährigen Gültigkeit am meisten von allen Autonomie-Normen zerrupft. Jedes Mal waren es Abänderungen im Sinne Langers. Reformen, um einer alle zehn Jahre drohenden Total-Abschaffung durch die Gerichte zuvorzukommen. Keine Südtiroler Besonderheit wird heute schamhafter weggeschwiegen als diese zwangsweise Einschreibung in eine der drei „Sprachgruppen“, ohne die einem Bürger Grundrechte wie Wahlrecht, Arbeit oder Wohnung vorenthalten bleiben.
Stellt sich die Frage: Was ist das Überlebensgeheimnis der „Grundpfeiler“ unserer Autonomie? Lag Alexander Langer, der sie stürmen wollte, falsch in Diagnose oder Therapie? Seinerzeitige Gegner, die aus der zeitlichen Distanz rückblickend milder urteilen, geben heute dem Gottseibeiuns von damals in vielem Recht, wenn auch jeweils mit dem Zusatz: „Er war halt zu früh dran“. Ein schlechtes Argument. Neues ist immer zu früh dran und ist nie mehrheitsfähig. Langer war ein brillanter Diagnostiker. Das anerkennt inzwischen eine Mehrheit. Freilich, für seine Diagnose verstanden worden ist Langer allenfalls außer Landes, also abseits seines Patienten. Auch das darf nicht verwundern. Das Land selber reagierte geschockt. Eben erst hatte es mit Paket und Autonomiestatut geglaubt, die originellste und wirksamste aller Grundlage für Frieden und Wohlfahrt gelegt zu haben. Da kommt dieser Narr und schreit: falsch! An Gegnerschaft litt Langer zeitlebens nie. Im Gegenteil, solche suchte er. Woran er geradezu physisch litt, war, dass er nicht verstanden wurde. Der Lehrer in ihm hielt das für eine eigene Schwäche: sich nicht verständlich machen zu können.
Warum also überleben Proporz, Sprachgruppenzwang Zweisprachigkeitspflicht und getrennte Schule? Weil! Diese trotzige Nichtbegründung des Kindes ist die treffende Erklärung. Es wäre naiv, von einer zwar geschwächten, aber immer noch mächtigen Partei zu erwarten, sie könne dem Recht geben, der sie an empfindlichster Stelle bekämpft und, schlimmer, bloßgestellt hat. Keine Machtpartei tut das. Der Erzfeind von einst hat zwar weitgehend die Wirkungslosigkeit des Klassikers erreicht, aber immer noch gibt es zu viele Menschen mit genug langem Gedächtnis, welche die Aufgabe von auch nur einem der drei-vier Säulenheiligen als Kapitulation vor dem Gegner von einst empfinden würden. Es ist der Fluch der Geschichte: Der Sturm-und-Dränger steht seiner Mission am sperrigsten selber im Wege, weit über seinen Tod hinaus. Solange Öffnung nach Langer riecht, bleiben Sprachgruppenzwang, Proporz und getrennte Schule patriotische Pflicht. Und somit erhalten.
Nun lebt freilich auch die SVP nicht von Prinzipien allein. Sie versteht sich auch prächtig opportunistisch zu bewegen. Die „Grundpfeiler“ der Autonomie wurden in ein armes und ungerecht behandeltes Südtirol gesetzt. Heute, Das im Wohlstandsland Südtirol, klemmt und zwickt das alte Stützkorsett an allen Enden. Was lange Krücke war, wurde zum Bremsklotz. Aber deswegen loslassen, gar ausräumen oder reformieren, wie Verfassungsrechtler Francesco Palermo es seit Jahren mit Verweis auf europäische Vorgaben anmahnt? Zum Lachen! Der Partei der Pragmatiker ist etwas viel Praktischeres eingefallen. Ich heiße es das die Durnwalder-Doktrin, und diese lautet: „Tut, was ihr wollt, aber haltet ’s Maul!“ Nach diesem Grundsatz wird im autonomen Land durchregiert, und sage jemand, es funktioniere nicht – einigermaßen.
Der Proporz? Muss weiter so im Autonomiestatut stehen bleiben, Hauptsache, er wird nicht angewandt. Es musste nicht erst der Coronavirus-Ausnahmezustand eintreten, dass selbst dem vaterländisch empfindlichsten Gemüt wurscht war, wie im öffentlichen Dienst eingestellt wird. Seit Jahren gibt es keine Landesregierungssitzung, bei der nicht mindestens ein Beschluss in Abweichung der Proporzbestimmungen getroffen wird. Mit der Zweisprachigkeit ist es nicht anders. Da braucht es keine Statutsreform, Wirtschaftskonjunktur und Personalnot schaffen das unabhängig davon. Es hat sich herausgestellt, überholtes Recht zu brechen ist unproblematischer, als das Recht der illegalen Wirklichkeit anzupassen. Und abgesehen davon, seit neuerdings der ethnische Proporz mit dem Argument verteidigt wird, er schütze die Italiener, müssen sich seine Wächter definitiv die Frage nach ihrer moralischen Statur gefallen lassen. Wollen sie sagen, die Italiener sollten froh sein, ohne Proporz gäben wir ihnen gar nix? Wir sind die Mehrheit.
Mit der Zweisprachigkeitspflicht ist es ein Elend, denn sie besteht in einer Prüfung, und immer öfter auch das nicht einmal mehr. Zertifikate von windigen Instituten sind eher eine Kostenfrage als ein Sprachproblem und beschämen die landesamtlichen Prüfungskommissionen seit Jahren. Nie führten so viele Wege zu lebenslanger Zweisprachigkeit, und bewirbt sich jemand um eine Stelle in den derzeit sogenannten systemrelevanten Bereichen, gilt der Bilinguismo ohnehin gleich für erlassen. In dem Land mit der dreisprachigen Freien Universität schrumpft gelebte Zweisprachigkeit zu einer Kulturkränzchen-Wirklichkeit. Wie sollte es anders sein? Sprache ist Übungssache. Das Land verdeutscht. Vor allen öffentlichen Stellen „die Muttersprache benutzen“ ist zur patriotischen Pflicht erklärt worden. Das Ergebnis: null Italienisch-Praxis. Von immer mehr Jugendlichen ist zu hören: Italienisch, warum Italienisch? Brauch ich nicht.
Die Schule schließlich und ihr sakrosankter Artikel 19. Eine Lüge, Gottseidank. Nirgends klaffen autonomiestatutarisches Gebot und gelehrte Wirklichkeit weiter auseinander: offiziell muttersprachlich getrennt, praktisch in fröhlichem Chaos durcheinander. Hier ist das durnwalderische „Tut, was ihr wollt, aber haltet’s Maul!“ geboren worden und zum System geronnen. Hier hat Alexander Langer mit seinem eigenen Rechtsfall den Ideologen des „Je klarer wir trennen, desto besser verstehen wir uns“ den schwersten Hieb erteilt. Wegen seiner Weigerung, sich bei der Volkszählung einer Sprachgruppe zugehörig zu erklären, hat ihm das deutsche Schulamt eine Lehrstelle an deutschen Schulen abgeschlagen. Vom Höchstgericht musste sich die deutsche Schulbehörde belehren lassen, dass „Muttersprache“, wie im Artikel 19 des Autonomiestatut vorgesehen, nicht gleichbedeutend ist mit „der deutschen Sprachgruppe zugehörig“. Eine Blamage für Autonomie-Flickschuster gleich wie –Vollstrecker. Langer bekam Recht und Stelle, und später viele andere so wie er. Die Schülergemeinschaft mischt sich durch. Der Artikel 19 wird zum Geisterartikel – seinen Verteidigern ist’s wurscht, Hauptsache Artikel.
Darf also Alexander Langer, ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod, zufrieden sein mit dem, was geworden ist? Setzt er sich durch, einfach so, mit andauernder Länge? Zufrieden wird er nicht sein, eher wundern wird er sich. Wundern darüber, wie es den Machthabern mit ein bisschen Trägheit und ein bisschen Schläue gelingt erfolgreich weiterzufuhrwerken, ohne ihm Recht geben zu müssen. Er wird Recht gehabt haben wollen darin: dass die Zwangssprachgruppenerklärung ein Verstoß gegen die persönliche Freiheit ist und die Vorlage für einen permanenten Gruppenkonflikt bleibt; dass der Proporz von einer Wiedergutmachungskrücke zu einem Vergeltungsknüppel pervertiert ist; weiters dass das Zusammenleben von Menschen verschiedener Herkunft, Sprache, Religion, Farbe längst die Normalität ist und nicht beklagenswerte Südtiroler Besonderheit; und schließlich dass Tiroler Verdienstorden für Italiener, solange die SVP sich diese selber aussucht, für ihre Träger ein Kainsmal sind.
Andererseits: Der 25 Jahre lang tote Langer hat sich nicht vorstellen können, wie wenig sich Leben in Paragrafen zwingen lässt. Er hat das Recht für stärker, wirkmächtiger gehalten. Wie „dynamisch“ die SVP es versteht, das Autonomiestatut zu verwerten und wie „dynamisch“ auch sein (Langers) Rütteln an den „Grundsäulen“ auszuhalten, das hat der sonst so Scharfsinnige unterschätzt. Ob er dann manches angestoßen hat von dem, was ist, manch anderes verhindert, oder ob in der Politik schlicht alles kommt, wie es eben kommt, und er, Langer, nur einen guten Riecher hatte, was ihm jeder gern bescheint, wer weiß. Die Frage stellt sich jedem Politiker.
Langers Frau, Valeria Malcontenti, wurde bei der feierlichen Eröffnung der Alexander-Langer-Schule 2015 im Bozner Neustadtviertel Firmian, der ersten Südtiroler Schule mit deutschen und italienischen Klassen unter einem Dach, um eine abschließende Wortschenkung gebeten. Die mundflinke Florentinerin beglückwünschte die Kinder: „Bambini!“, sagte sie, „vi rendete conto della vostra fortuna? Avesse Alex visto questa bella scuola, forse non se ne sarebbe andato. D’altronde“ – Valeria hielt kurz inne und fuhr dann fort – „d’altronde, se Alex ci fosse ancora, non ci sarebbe questa scuola“.
Tatsache ist, die Alexander-Langer-Schule gibt’s. Alles Andere ist Spekulation.