Von altem Stoff
Das Stoffgeschäft „Corradini“ unter den Bozner Lauben verweigerte sich 100 Jahr lang dem Kaufmannscredo „Handel ist Wandel“. Jetzt ist es zu. Eine Überlebensgeschichte.
Wer eintritt, sieht alles. Noch vollkommener sagt es Frau Marlene Corradini, die Chefin: „Was wir haben, ist da“. Es sind da: ein 27-Quadratmeter-Raum, darin ein 5 m mal 72 cm großer Verkaufstisch; an allen vier Wänden, Eingangstür und Ausladenfenster ausgenommen, Regale vom Boden unten bis zur Decke oben, vollgestoßen mit Stoffballen; hinten links ein Tischchen, 70 cm breit und 40 tief, das sich als die Verwaltungszentrale herausstellen wird; ein Stuhl davor, einer daneben; und nicht zu vergessen: der alte Kerosin-Ofen.
Es ist das ganze „Corradini“, mehr ist nicht. Kein Keller, kein Magazin, geschweige ein Arbeitsraum. Im Zimmer dahinter, in das man durch ein Türfenster sieht, war einmal das bekannte Sportgeschäft Reinstaller. Wer dort Schischuhe kaufte, trampelte mit diesen anschließend durchs Corradini hindurch und hinaus in die Laubengasse. Zum Abort geht’s über 20 Stufen in den Oberstock. Der gehört dann genau genommen schon zum Nachbarhaus. So ineinander verkeilt sind Laubenhäuser. Das bisschen Tageslicht kommt vom überdachten Lichthof darüber.
Wir sind im Laubengeschäft Nr. 23, „Corradini Stoffe“. Seit 1880 besteht es und seit 1934 heißt es so. Seit letzter Woche ist es zu. Eine überlebende Institution ist ihrer untergegangenen Zeit nachgefolgt. Um es jetzt nicht zu Rührseligkeit kommen zu lassen, gleich zum Trost: Der „Laden“, der ja nicht in Mauern besteht, sondern im Stoff darin, in seinen Mitarbeiterinnen und seiner Kundschaft, er stirbt nicht wirklich. Er zieht nur um, und zwar in die Vintler Galerie. Er geht damit nur jenen Weg nach, den andere, prominentere Laubengeschäfte schon viel früher gegangen sind: nämlich das Goldpflaster Lauben an die „Ketten“ zu vermieten, und selber in die billigere Dr.-Streiter-Gasse dahinter auszuweichen. Es ist Gentrifizierung auf Boznerisch, die dereinst in der Benko-City ihren Abschluss finden wird. Zum Plärrn, aber offenbar unvermeidlich.
Deshalb, ein Wunder ist, dass „Corradini Stoffe“ noch da war. Ein Krämer-Ladele in einer globalisierten Kaufhaus-Gesellschaft. Als sei es von den Immobilienhaien übersehen worden. Dabei handelt es sich bei dem „Corradini“ keineswegs um ein herabgekommenes, geschweige abgewirtschaftetes Geschäftchen. Gott bewahre, es war immer so. „Wir waren immer die Kleinsten hier“, sagt Frau Marlene (Corradini) in einer Mischung aus Wehmut und Kleine-Leute-Stolz. 82 Jahre alt ist die Frau, und 68 Jahre war sie hier. Es war 1952, dass sie und ihr älterer Bruder Günther das Geschäft von ihren früh verstorbenen Eltern übernommen haben. Die „Kleinsten“ von damals 14 Tuchgeschäften allein unter den Lauben waren sie. Seit Jahren schon sind sie das einzige.
Der Überlebensrekord hat freilich auch seine Nachteile. Als das „Eccel“ zumachte, das traditionsreichste und überhaupt Mutterhaus des Bozner Tuchhandels, so erzählt es Frau Marlene, „da haben die Leute gesagt, ’jetzt werdet ihr aber Geschäft machen!’. Das Gegenteil war der Fall“. Die Frau kennt sich aus am Markt. „Nur wo viele verkaufen, verkauft einer viel.“ Früher, erzählt sie, war es ein einziges Gegrüße, wenn sie nach Ladenschluss durch die Lauben ging, „heute kennt mich niemand mehr“. Es gab bessere Zeiten für Stoffläden, und man glaubt Frau Marlene, wenn sie sagt, „heute, heute gibt’s schon Tage, da mehr Leute kommen um zu fragen, ob nicht etwa das Geschäft zu haben wäre, als um ein paar Meter Stoff zu kaufen“.
Das Geschäft ist nicht zu haben. Jedenfalls nicht von Frau Corradini. Sie ist nur Mieterin hier. So wie es ihre Eltern vor ihr waren. Diese, Vater Konrad und Mutter Rosa und dazu noch Tante Fritzi, waren allesamt Angestellte bei Eccel, hatten dort das Kaufmannsgewerbe erlernt, und übernahmen 1934 das Stoffe-Ladele auf der gegenüberliegenden Laubenseite. Eigentümer der Immobilie war und ist weiterhin eine Familie Egger. „Verständige Vermieter“, bittet Mieterin Marlene um ausdrückliche Erwähnung. Tatsächlich hat das Corradini all die Jahrzehnte herauf weniger als ein Zehntel Miete bezahlt von dem, was vergleichbare Lokalitäten in der Nachbarschaft kosten. „Wir haben immer gute Vermieter gehabt, auch privat“. Ihr eigenes Alter und die selbstschädigende Großzügigkeit der Vermieterfamilie Egger bedenkend, hat Frau Corradini dieser schließlich angeboten, das Lokal „frei zu geben“. „Herwärts“, präzisiert sie.
„Frei geben“ ist treffend gesagt. Frau Corradini hat in dem 27-Quadratmeter-Laden, nein, zu sagen gearbeitet, ist untertrieben. Sie hat hier gelebt. 68 Jahre von morgens früh um halb 9 bis Mittag Viertel nach 12 und von nachmittags um 3 bis abends um 7. Sechs Tage die Woche, Samstag nachmittags frei und sonntags auf den Berg.. Im Sommer zwei Wochen ans Meer, Legnano. Immer. Gelegentliche Ausnahme: Eine Weiße Woche in Reischach. Den liederlichen Umgang der moderneren Bozner Kaufmannschaft mit den Öffnungszeiten verurteilt sie. „Die Busse vom ganzen Land“, weiß sie, „kommen um 8 Uhr an, da ist es unhöflich, die Leute weiß Gott wie lang vor geschlossenen Geschäften warten zu lassen“.
Tatsächlich kauft das ganze Land bei Corradini ein. Zwar nicht viele, aber sehr wohl „vom ganzen Land“. Denn es gibt hier noch, was es sonst fast nirgendwo mehr gibt. Meterware in jeder Qualitätsstufe und Preisklasse. Vom billigsten Tüll zu 3 Euro den Meter bis zum teuersten gestickten Samt zu 345 Euro. Ganze Musikkapellen und Chöre wurden mit Corradini-Stoffen eingesackt. Da gebe es immer wieder was zu erneuern. Trachten und Dirndln würden wieder mehr getragen, sogar Schneiderinnen gebe es wieder, und Obacht, was Frau Marlene besonders freut: „Die Jugend beginnt wieder am Selber-Nähen Freude zu finden“. Für kurze Zeit hat sich das Corradini einmal ins Konfektionsgeschäft locken lassen. Nicht lange. Es fehlte der Platz für die Umkleidekabine, und überhaupt: Da probiert jemand eine Bluse, nimmt sie dann nicht, und „hintennach – die Dame weg – entdecken wir Make-up-Spuren am Krägelchen, nein, nein“ – besser beim Tuch geblieben.
Nicht jeder Trend, guter wie schlechter, ist am Corradini vorbeigegangen. Wie old-fashioned der Laden sonst anmuten mag, auch hier hat die neuzeitliche Unart eingerissen, dass Leute kommen, sich beraten lassen, an der Ware herumfingern, sie fotografieren, um sie dann anderswo zu kaufen. Vorm Internet-Handel, dem Schreckgespenst des Kleinhandels sonst, hat Frau Marlene keinen Respekt. Sie hält Tuch für nicht Internet-affin. „Stoff wirst du immer angreifen wollen“, weiß sie. Ob das eine Illusion ist? Keine Illusion, sondern handfeste Erfahrung ist: Das Geschäft der Stunde, das sind Masken. Ja, Anti-Covid-Masken. „Den ganzen Tag verkaufen wir Maskentuch, seit Monaten, 20-cm-Streifen aus jeder Art Tuch, von der Seidenspitze bis zur normalen Baumwolle.“ Schwarz sei momentan der Hit.
Ob Frau Marlene Angst habe vor der nun anbrechenden Corradini-losen Zukunft. „Angst wovor? Erstens geht’s ja weiter. Meine Ladenfrauen, die Evi und die Gabi – hab sie beide ausgebildet – nehmen alles mit: den Kundenstock, was das Wertvollste ist, die Ware, und nicht zu unterschätzen: den Namen“. Corradini bleibt Corradini – „nur den Katzensprung weiter in die Vintler-Galerie. Da packt es jeder hin.“ Auch sie selber werde weiter „hingehen und Kundschaft schicken, so viel geht“.
Und privat, Frau Marlene? Ja, privat, überlegt sie, „privat war ich nie. Ich hab im Geschäft gelebt und bin hier daheim. Bin längst Dienstälteste unter den Lauben. Hab keinen Tag meines Lebens auch nur eine Stunde Kopfweh gehabt. Ich glaub, ich hab mich selber abgehärtet, hab nie was gekauft und dabei nie den Eindruck gehabt zu verzichten.“ Dann sagt die dienstälteste Laubenkauffrau von Bozen etwas, was sich heutzutage schlicht geschäftsschädigend anhört: „Wir haben immer gespart“, sagt sie. Sie zählt die Rangordnung ihrer geldlichen Verpflichtungen auf: zuerst die Löhne der Angestellten, dann die Mieten für Laden und Wohnung, dann die Lieferanten, „und was dann noch bleibt, ist mein“. Veraltete Kaufmannsmoral.
Jetzt sitzt Marlene Corradini das letzte Mal da am Tischchen, das ihr Sekretariat, ihr Kontor, ihre Telefonzentrale, ihr Wachposten war. 68 Jahr lang, und 34 Jahre lang vorher war es das alles für ihre Eltern. Am Ladentisch bedienen die Angestellten Evi und Gabi letzte Kundschaft und packen Stoffballen weg. Zum Mitnehmen. Ab Mitte Oktober werden sie selber ihre Chefs im neuen „Corradini „sein. „Schön, dass es weitergeht“, sagt Frau Corradini.
Über dem Direktionstischchen hängt ein Schwarz-weiß-Foto vom Geschäft, datiert 1915. Es könnte von heute sein. Einzig an einer nicht ganz heutig gekleideten Kundin ist zu erkennen, dass es historisch ist. Ich suche auf dem Foto den Kerosin-Ofen, der neben dem Tischchen steht und das ganze Lokal heizt. Eigentlich müsste der auch schon von damals sei. Ob er noch heutigen Sicherheitsvorschriften entspricht? Noch-Chefin Marlene ist nicht maulfaul: „Warum nicht? Die Feuerwehr kommt jedes Jahr, zu kassieren“
Foto: „Wir waren immer die Kleinsten hier“. Marlene Corradini, 82, führte 68 Jahre lang ihr Stoff-Geschäft.