Der fällige Kniefall vor der Wirklichkeit
„Großes Chaos unter dem Himmel“. Das stellte vor 55 Jahren Mao Tse Dung in China fest und rief die Kulturrevolution aus. Um „große Ordnung“ in sein Riesenreich zu bringen. Wie es ausging, wissen wir. In der Südtiroler Landesregierung herrscht dieser Tage auch großes Chaos. Landesräte gegen Landeshauptmann, Wirtschaft gegen Gesundheit, öffnen gegen lock down – und das große Chaos setzt sich in der Berichterstattung darüber fort. Am krassesten treibt es das Massenblatt. Brüllt in Balkenlettern auf Titelseite und auf den Schürzen vor den Kiosken: „Kniefall vor Rom sorgt für Ärger“. Und berichtet innen – das Gegenteil. Dankenswert mittels Grafiksäulen, damit auch Analphabeten es verstehen, wird erklärt, dass Südtirol mit seiner Covid-Wocheninzidenz 627 am schlimmsten von allen Regionen Italiens dasteht, dreimal schlimmer als das Trentino, fünfmal als der Corona-Krisenherd Lombardei. Und nicht nur das: Wenn die Statistiken der Süddeutschen Zeitung stimmen, dann ist Südtirol (wäre es ein Freistaat, was die meisten der „Kniefall-vor-Rom“-Hetzer ja möchten) gegenwärtig nach Portugal mit einer Inzidenz von 857 das zweitverseuchteste Land der Erde. Es folgen Spanien und Israel mit über 500. An neunter und zehnter Stelle der Covid-Inzidenz-Hitparade liegen Seychellen und San Marino.
Wir sind also in prominenter Gesellschaft und müssen uns nicht schämen. Nicht für den Zustand jedenfalls, aber halt leider für die Art, wie wir damit umgehen. Der Südtiroler Sonderweg, über den seit Tagen niemand mehr spricht, der erwies sich als Holzweg. Es sei hier nicht aufgerechnet, wann und wo was falsch eingeschätzt wurde. Alles mag gut gemeint gewesen sein, das Ergebnis sagt, es war das Gegenteil von gut. Man hat sich geirrt, und irren ist menschlich. Aber jetzt im Irrtum beharren? Das ist teuflisch. Wer jetzt sagt: „Kniefall vor Rom“, ist ein Schwindler. Was die Landesregierung diese Woche beschlossen hat und der Landeshauptmann mit Sonntag in Kraft setzen wird, die Wiederschließung der Geschäfte Gasthäuser nämlich, ist eine hochnotwendige und überfällige Notbremsung vor dem Abgrund.
Der „Kniefall“ des Landeshauptmanns (denn der ist doch gemeint) ist tatsächlich erfolgt. Aber schon viel früher, und das nicht vor Rom. Wenn Kniefall, dann war es ein Kniefall vor der Wirklichkeit. Der Wirklichkeit der Gesundheits-, genauer gesagt: der Krankheitsdaten. Sie wurden verdrängt, gefälscht, geleugnet, bis alles nicht mehr half. In die Knie gegangen ist der Landeshauptmann vor den Wirtschaftsverbänden und deren Agenten in der Landesregierung. Die Pinzgers und Mosers führen sich auf, als seien sie die Epidemiologen und der Expertenrat. Glaubte man ihnen, stürbe Südtirol eher an still stehenden Schiliften und schlecht gehendem Saisonschlussverkauf als an der Pandemie.
Die Situation von Hoteliers, Kaufleuten und deren Mitarbeitern ist sicher dramatisch. Aber sie kann doch nicht aufgewogen werden gegen die Bedrohung der Volksgesundheit durch das Corona-Virus. Als stünden wir vor der Alternative, welchen Todes wir sterben wollen: durch Verelendung oder an Covid. Das ist übelste Demagogie. Gesundheit ist nicht alles, stimmt, aber ohne Gesundheit ist alles nichts. Plötzlich verklären alle auch den Wert des Schulbesuchs. Ganze Jahrgänge werden ungebildet verloren sein. Blöd nur, dass die jungen Leute nach Monaten der Aussperrung nun reihum befinden, dass Digitalunterricht gar nicht so schlimm sei und sie sich einen solchen auch als Dauer-Einrichtung vorstellen könnten.