Nanne, Gott behüte dich!
Warum ich auf „meine Nanne“ keinen Nachruf schriebe? Seit einer Woche bekomme ich vorwurfsvoll diese Frage gestellt. Ich stelle sie mir ja selber auch, seit mir vergangenen Dienstag Tochter Renate den Tod ihrer Mutter mitgeteilt hat. Anna Stolzlechner, die Nanne von Prettau, war soeben gestorben. 97jährig, eingeschlafen auf der Ofenbank, ihrem Lebenssitz und Arbeitsplatz der letzten Jahre. Ich hatte sie zwei Tage vorher angerufen, und das erste Mal in vielen, vielen Jahren kam aus dem Hörer nicht ihr vertrautes „Flor, Gott grüße dich“. Es antwortete Sohn Klaus, Nannes Jüngster und liebevoller Betreuer. „Die Mutti ist schwach, hat Corona, ich kann sie dir nicht geben“, sagte er.
Ja, warum ich auf sie keinen Nachruf geschrieben hätte. Offenbar erwartete man sich einen. Grabredner grad nicht, aber für einen Nachrufer von einiger Unbeherrschtheit hält man mich immer noch. Es muss Befangenheit sein, die man nahestehenden Menschen gegenüber empfindet und die einem eine gewisse Trauerfrist auferlegt. Zwar gehöre ich nicht zur Verwandtschaft, aber seit Jahrzehnten benehme ich mich so gut wie. Aus politischer Wahlverwandtschaft wurde persönliche Freundschaft, aus Polittreffen wurden private Besuche, aus Briefen Telefonate, und irgendwann war’s Familienzauber, erweiterter. Deshalb keinen Nachruf. Aber da piesackt mich Rosmarie, meine Frau, selbst auch längst Freundin: „Du musst doch! Bist es ihr schuldig, einen kurzen zumindest, für deinen Blog nur“.
Und so schreib ich halt. Aber nächstes Problem: Ich hab über „die Nanne“ doch alles schon geschrieben. Wann immer die Frau Stolzlechner etwas Öffentlichkeitsrelevantes gesagt, getan, meistens gefordert hat, – ich habe darüber geschrieben. Mein ganzes Journalistenleben lang und jedes Mal partisanenhaft wohlwollend. War gar nicht anders möglich. Man hätte schon selbst Prettauer sein und in all seine Dorfstreitereien verwickelt gewesen sein müssen. Aber sonst? Auf dem ganzen Rest der Welt vor der Klamm (das ist die Talenge, hinter der nur noch Prettau liegt) galt: Wer die Nanne erlebte, erlag ihr. So erging es dem Egmont Jenny, der vor über 50 Jahren glaubte, mit der „Frau Stolzlechner“ die Sozialdemokratie in Südtirol erden zu können. Um sie rissen sich dann die Splitterparteien, die Jennys politisches Erbe hinterher reihenweise verwirtschafteten. Ihr schrieb Alexander Langer herzwärmende Briefe. Sie hatte den Weltumarmer trocken angezogen, als er 1984 von seiner Bergtour zur Umbenennung der „Vetta d’Italia“ in Europaspitze durchnässt und unterkühlt bei ihr im Tal in Kasern eintraf.
Bei Alexander Langer verhielt es sich mit dem Erliegen entschieden beidseitig. Zog sich die streitbare Nanne von den wechselnden links-, grün- und alternativ gewickelten Initiativen mit den Jahren weitgehend zurück, so blieb für „meinen Alex“ auf ihrem Hausaltärchen ein Plätzchen reserviert bis zuletzt. Ihre Verehrung für ihn ging soweit, dass sie sich bis zum Tod weigerte, an Langers Selbstmord zu glauben. „Der Alex tat das nicht. Ich kenne ihn.“ Liebe kennt keine Tatsachen. Die Nanne verschaute sich gern in Menschen. Organisationen, ob Partei oder Kirche, gingen ihr nicht nahe. Ihrem später auf Gemeindeebene politisierenden Sohn Klaus zu Hilfe trat sie spät kurzzeitig einmal sogar der sonst verachteten Volkspartei bei. Zur katholischen Kirche unterhielt sie das gleiche undogmatische Zweckverhältnis. Nanne hielt sich für einen gläubigen Menschen, aber „knierutschen tu ich nicht“, betonte sie. Den letzten Prettauer Pfarrer Sepp Profanter achtete sie. Er besuchte sie einmal in Monat. Papst Franziskus verehrte sie. Zu meiner Parlamentarierzeit bat sie mich gelegentlich, „bring mir einmal ein paar so Devotionalien vom Franziskus mit“. Dessen Vorgänger Benedikt XVI litt sie nicht. Hieß ihn unterkühlt „den Ratzinger da“. Er erinnere sie „an die Deutschen“, die sie kennen gelernt habe. Nanne hatte eine deutliche Aussprache.
Worin der Charme der Nanne lag? Denn Charme hatte sie allzeit und überörtlich. Ich kürze die Antwort auf ein Wort zusammen: ihre Sprache. Die Nanne sprach, dass jeder Bauer es verstand und wie kein Professor es imstande wäre. Sie sprach weltläufig auf Töldrerisch. Knapp, klar, schnörkellos und unwiderstehlich musikalisch. Jeder Satz eine Sentenz. Und weil sie so schön sprach, bekam alles, was sie sagte, auch Gewicht. Und wie sie sprach, so schrieb sie auch. Ihre Briefe „nach Bozen“, in der Regel Beschwerdebriefe, erregten Respekt. Diese wurden in ihrer Wirkung übertroffen nur noch von ihren seltenen persönlichen Auftritten in den Landesämtern. Bäuerisch elegant, in Hosen und mit höflicher Resolutheit. Da kam es schon vor, dass Landesräte gleich ihre Amtsleiter zusammenriefen, dass sie sich mit anhörten, wer da was zu sagen hatte. Einerlei, ob sie deutsch oder italienisch sprach. „Aus einem verzagten Arsch kommt kein fröhlicher Furz“. Ist von Martin Luther, aber könnte von Anna Stolzlechner sein. Selten fuhr die Nanne von einem Amtsbesuch unverrichteter Dinge zurück ins Tal.
Unvermeidlich, dass sich die Frau mit ihrer klaren Aussprache auf Feinde machte. Es traf sich, dass die Nanne sich in dem Langzeit-Bürgermeister ihres Dorfes, dem Köfla-Bauer Josef Steger, einen zum Lieblingsgegner genommen hatte, der die Klinge der scharfen Rede ähnlich meisterhaft führte. Jahrzehntelang blieben die beiden einander in offener Abneigung verbunden. Es spricht für den legendären Bürgermeister genauso wie für seine politische Widersacherin: beide alterten in Milde, schlossen spät einen nie erklärten Frieden miteinander und wetteiferten sogar vor ihrem jeweiligen Tod, wer nun dem Gegenüber endgültiger vergeben habe.
Selbstverständlich war die Nanne überzeugt, dass schon eher sie „in Köfla an Mentsch hot sein lossn“. Komplimente, das Alter habe sie weise und milde gemacht, wies sie zurück. „Gerecht“, das wollte sie gewesen sein. Und allenfalls noch „ehrlich“. Weil ehrlich, verbat sie sich zum Schluss ausdrücklich eine Todesanzeige im Tagblatt. Niemand grüßte mich zum Abschied schöner: „Gott behüte dich!“ sagte sie immer. Ich kann nur so zurückgrüßen. Und das war jetzt wieder kein wirklicher Nachruf. Macht aber nichts. Ich habe die Ehre diesmal dem Georg Mair überlassen. Der hat einen besonders schönen in der neuen ff geschrieben.
Foto: Anna Stolzlechner (1923-2021) im letzten Herbst an ihrer Haustür in Kasern