Florian
Kronbichler


Denn sie haben kein Bett mehr

Verwandtschaftsbesuch im Pflegeheim. Was die Pandemie mit Pflegerinnen und Patienten anrichtet. Eindrücke eines Betroffenen. Einer meiner vielen Brüder leidet an Alzheimer. Eine heimtückische Krankheit und in seinem Fall eine ziemlich galoppierende. Seine Frau pflegt ihn aufopfernd selbstausbeutend. Um sich nicht vollends zu verausgaben (was das Schlimmste wäre, was dem armen Pflegling passieren könnte) hat sie die Möglichkeit einer zeitweiligen Aufnahme im Brunecker Pflegeheim beansprucht. Sie besteht, um privat Pflegenden eine Verschnaufpause zu ermöglichen. Nach zwei-drei Wochen müssen die Angehörigen ihre Pflegefälle wieder zurück nach Hause nehmen, denn es warten andere aufs Bett. Die Wartelisten sind lang. Im Unterschied zur Krankheit kennt die Pflege einen Turnus. Besuche beim Bruder im Pflegeheim sind immer auch Erfahrungen mit Zuständen und Stimmung im Haus insgesamt. Man lernt andere Patienten und Angehörige kennen, macht die Erfahrung, dass man kein Einzelfall ist, was tröstlich sein kann, und ganz aktuell: Man bekommt eine Ahnung davon, was die Pandemie dort anrichtet, wo Leben weitgehend nur noch Kampf ums Überleben ist. Überleben der Patienten, aber auch der Pflegenden. Kein Besuch, in dem Pflegerinnen, auch leitende, einem ihr Herz ausschütten über die Umstände, unter denen zu arbeiten sie gezwungen sind. Und, in meinem Fall, unvermeidlich die Bitte, „schreiben Sie doch mal etwas!“ Für normal ist Distanz hilfreich, wenn nicht gar Voraussetzung für wahrheitsgetreue Information. Objektivität und persönliche Betroffenheit vertragen sich schlecht. Und doch, vermutlich muss man persönlich betroffen sein, um das Ausmaß des Elends zu begreifen, wie es sich bei Fortgang der Pandemie grad auf dieser untersten Stufe des gesellschaftlichen Lebens darstellt. All die Daten und Statistik-Diagramme über Besserung oder Verschlechterung der Lage, mit denen uns die Medien täglich füttern, erregen allenfalls noch die Emotion des Wetterberichts. Die Benimm-Appelle des Herrn Landesrats sind Eigenwerbung. Professor Gänsbacher bei Gudrun Esser auf Rai Südtirol hat gediegenen Unterhaltungswert. Sind die zuständigen Politiker und Verwalter persönlich manchmal in Covid-Abteilungen und Pflegeheimen? Keine Ahnung. Die Betreuerinnen, die ich bei Besuchen treffe, sagen nein. Ich bin nicht so sadistisch, um es den Herrschaften zu empfehlen. „Hau auf die Politiker!“ ist Dauerprogramm auf Gängen und in Zimmern. Ich bekomme Frust und Schimpf selber zu spüren, als Ehemaliger. Die Dienstleiterin hat meiner Schwägerin soeben eröffnet, nächste Woche müsse sie ihren Mann wieder heimnehmen. Tue ihr Leid, aber „es wartet der Nächste“. Im Altersheim, inklusive Pflegeabteilung, stehen 30 Betten leer. In Südtirols Pflegeeinrichtungen insgesamt seien es momentan 700 Betten. 700 leere, das heißt unbelegte Betten bei einer Nachfrage, die Legionen sind. Weil? Weil „ein Bett“ ein Schwindel ist. Ein Bett bedeutet drei-vier Pflegende, und ohne diese ist ein Bett keines. Der „Bettenstopp“, touristisch unser Dauergespenst, ist bei der Pflege grausame Wirklichkeit. Im Haus herrschen gleichermaßen Frust wie Verständnis. Pfleger und Pflegerinnen, die einen impfbedingt suspendiert, andere, die den Dienst gekündigt haben. „Reihenweise“. Abgeworben von Industriebetrieben der Stadt, „zu genau gleichem Lohn!“ Die Versprechungen von Aufbesserung sind leere Worte geblieben. „Wollen Sie Heldinnen werden?“ hat der Sanitätsbetrieb vergangenen Sommer mit Inseraten in Bezirkszeitungen fürs Krankenpflegerinnen-Studium in der Claudiana geworben. So peinlich wie wirkungslos. Unverständlich lange Ausbildung zu unattraktivem Lohn. Nicht nur kommen zu wenige junge Pflegekräfte nach, bestehende laufen reihenweise davon. Weil zu belastend, zu vergleichsweise geringem Lohn, zu enttäuschend die Anerkennung. Im Landeshaushalt 2022 findet das Pflegepersonal die versprochene Besserstellung nicht. Die Verantwortlichen, die Politiker, die Verbandslobbyisten, diejenigen, die nach mehr Wirtschaftsbeiträgen und weniger Steuern schreien, müssten einmal in eine Pflegeeinrichtung unseres Landes hineinsehen. Angehörige stehen stumm herum. Ob sie hoffnungsvoll auf Zusage warten (ja, die Mutter kann kommen) oder eine Absage befürchten (nein, Sie müssen den Mann mitnehmen), ist den Leuten aus den Augen abzulesen. Allein schaffen sie es nicht. Der Hauspflegedienst kommt nicht mehr. Covidbedingt. Pflegeabteilungen sind landauf-landab Betten ohne Personal. Also bettenlos. In die Gänge und Aufenthaltsräume eines Pflegeheimes müssten die Herrschaften gehen und dort mit den allein gelassenen, genauer gesagt: übrig gebliebenen Betreuerinnen sprechen. Von 20 Betreuerinnen in Bruneck sind gegenwärtig noch 12 da. Die anderen: suspendiert, gekündigt.Die Stimmung unter den „Dableibern“ schwankt zwischen verständnisvollem Frust und moralischer Empörung. Für Impf-Verweigerer gibt es wenig bis gar kein Verständnis. Achselzuckendes „Verstehen“ ist zu hören für diejenigen Kolleginnen, die in (vermutlich weniger anstrengende) Jobs zu gleichem Gehalt in die umliegenden Industriebetriebe wechseln. Daneben gibt’s aber auch und weiterhin die Hochanständigen, die ans Berufsethos appellieren. Sie wollen Pflegerinnen sein. „Pflegerinnen!“, so sprechen sie es aus. Sie fühlen sich von der Notlage in die Pflicht genommen. „Wir müssen jetzt zeigen, wer wir sind“, sagt die Frau, die soeben meinen Bruder trockengelegt hat und jetzt in den Rollstuhl setzt. 24 Jahre ist sie schon da, und „ich lauf jetzt nicht davon“, sagt sie. Der Bruder kann nicht mehr sprechen. Ein Anflug von Lächeln in seinem Gesicht dürfte ein Danke bedeuten.


Flor now
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