Der Landpfarrer
Wer Oberschule gegangen ist, hat schon einmal Bekanntschaft gemacht mit den „Promessi sposi“. Dieses Hauptwerk von Alessandro Manzoni war Pflichtlektüre im Italienisch-Unterricht. Freilich, wie für das meiste Verpflichtende aus der Schule gilt halt auch für diese Geschichte von Renzo und Lucia im Mailand der Pestjahre des 17. Jahrhunderts, dass Schüler das Recht haben, es wieder zu vergessen. „Promessi sposi“ – was war das gleich? Nur eine Figur vielleicht, die Figur des Don Abbondio dürfte auch dem zerstreutesten Oberschul-Abgänger in Erinnerung, vermutlich gar im Herzen geblieben sein: der liebenswürdige, ein bisschen schlichte Landpfarrer, der für seine Pfarrkinder alles täte, aber auch so selbstkritisch ist, um sich einzugestehen, dass „il coraggio, uno, se non ce l’ha, mica se lo può dare“. Das ist mein Bild von Philipp Peintner, der fast 50 Jahr lang Pfarrer in Olang war und jetzt mit 85 Jahren gestorben ist. Der gute Landpfarrer, den es nicht mehr gibt. Ich sehe ihn in meiner Vorstellung an einem dieser schönen Spätwintertage oder, besser noch, an einem frühen Sommerabend, bei Betläuten, über die Weiten der Olanger Felder spazieren gehen. Den Feierabend begehend. Brevier betend vielleicht. Unvermeidlich für einen, der „Promessi sposi“ gelesen hat, dass ihm dabei das Bild des Don Abbondio in den Sinn kommt, wie dieser auf den Wegelchen an „quel ramo del lago di Como“ friedlich dahinspaziert, seiner Canonica mit der treuen Perpetua darin zu, und wie plötzlich zwei „Bravi“ (die das Gegenteil von dem sind, was das Wort vermuten ließe) ihm auflauern und seinen Seelenfrieden mit etwas stören, was dann den Stoff zum ganzen langen Roman liefert. Dem Pfarrer von Olang lauerten keine Häscher auf. Er hatte keine Feinde. Und von der Don-Abbondio-Figur des großen Manzoni-Romans hatte er nur die gute Seite. Eindeutig gehörten seine Sympathie und Fürsorge den Kleinen, den „Mühseligen und Beladenen“ der Bibel. Aber er war deswegen kein Klassenkämpfer. Pfarrer Philipp hatte seine ganz eigene Weise, die Nöte des kleinen Völkels mit den Ansprüchen der Großkopfeten unter einen Hut zu bringen. Heißen wir sie Pfarrer Philipps Sozialpartnerschaft. Um für die Kleinen alles „herauszuholen“ hielt er ein gutes Verhältnis zur Obrigkeit im Dorfe („in den Dörfern“ müsste man auf Olang bezogen sagen, denn es gibt deren dreie) für die viel geeignetere Strategie als den Kampf. Ein solch gutes Verhältnis hatte und pflegte er sein ganzes Olanger Halbjahrhundert lang. Demokratischer Dialektik entsprach solche pfarrliche Ökumene nicht, aber man nahm dem Pfarrer die gute Absicht beiderseits ab. Manchen erschien sein „Schließ-ma-alles ein“ mitunter zu beliebig. Oppositionsgruppen, die es auch in Olang gibt, wünschten sich – nein, keinen anderen Pfarrer – aber halt dass dieser gelegentlich nicht nur Gutes tue, sondern sich auch dazu bekenne. Das tat er nicht. Allerdings auch nicht für die politische Mehrheit. Sagen wir: Pfarrer Philipp war für beide, und am liebsten war ihm, wenn Mehrheit und Opposition einander eins waren, was vorkam und einige Male der Unwiderstehlichkeit des Herrn Philipp zu danken war.„Herrn Philipp“ riefen die Olanger ihren Pfarrer, der 1937 in Natz auf Josef getauft wurde und als Augustiner Chorherr von Neustift den Klosternamen Philipp annahm. So eine Betitelung für einen Geistlichen ist eher Ausnahme. Ist selbst in Olang nicht üblich. Sie klingt an den Don der Italiener an. Don Philipp? Es muss an der überdurchschnittlichen Beliebtheit der Person gelegen haben. Kein Mensch hat ihn als Herrn Pfarrer oder Pfarrer Peintner gekannt. „Herr Philipp“ war Friedensstifter, privat wie amtlich. Von keinem Vorurteil gegenüber wem und was behaftet, gab er jedem Menschen, den er vor sich hatte, das Gefühl, ihn zu verstehen. Notorische Streithanseln gingen ihm von vornhinein aus dem Weg. So als wären sie bemüht, den eigenen Groll vor der sprichwörtlichen Herzensgüte des Pfarrers in Schutz zu nehmen. Den Beruf des Seelsorgers verstand er in einem sehr weiten Sinn des Wortes. Gemeint, dass er fürs erste jedem seine Seele ließ. Und zweitens: die Sorge darum drängte er niemandem auf. Konflikte mit der kirchlichen Obrigkeit: natürlich keine. Wäre nicht seine eigene charakterliche Konfliktscheue Garantie genug dafür gewesen, hätten die verwandtschaftlichen Verhältnisse dafür gebürgt: Kanonikus Josef Michaeler, jahrzehntelang mächtiger Generalvikar an der Kurie, war Natzer Landsmann und Cousin von Herrn Philipp. War dieser in seinem Friedensbemühen einmal am Ende mit seinem Latein, dann kam schon vor, dass er den großen Vetter Josef in Brixen oder Bozen zu Hilfe rief. Der schaffte dann Frieden auf seine bekannt handfeste Weise. Als Priester war „Herr Philipp“, was vom Großteil der Pfarrer unserer Diözese zu sagen ist: von gediegener Reform-Konformität. Die Leute würden anerkennend sagen: „a bissl modern, aber doch nicht …“. Soll heißen: nicht zu (modern). Grad so, wie der Großteil der Leute es gern hat. Deswegen behielten die Olanger sich ihren Herrn Philipp auch so unüblich lang. 50 Jahre wären es bald geworden. Die kuriale Regie hatte schon mehrmals an Versetzung gedacht. Jedes Mal ist dann eine Abordnung des Olanger Volkes hin und hat gebeten, „lasst uns unsern Herrn Philipp noch a bissl!“. Diesen Mittwoch hat Olang seinem Ehrenbürger und Verdienstmedaillenträger ein großes Begräbnis bereitet.
Foto: „Herr Philipp“ Peintner (1937 – 2022)