Ein Nachmittag zum „Unvergessen“
Gespräch über den Sarner Widerständler Franz Thaler und sein Vermächtnis für uns.Corona ist manchmal eine Vorsehung. Der Katholische Südtiroler Lehrerbund (KSL) hatte mich zu einem Erinnerungsnachmittag über den Sarner Widerständler Franz Thaler geladen. Das war vor genau zwei Jahren. Pamps, kam die Corona-Pandemie. Die Tagung wurde verschoben, zunächst um ein Jahr, Corona war immer noch da, und jetzt, nach zwei Jahren, erklärte KSL-Seniorenchefin Herlinde Reitsamer Corona zwar nicht für vorüber, aber für zumutbar. Vor einem vollbesetzten Waltherhaus-Foyer begrüßte sie die beiden Thaler-Töchter Brigitte und Leni sowie mich als Referent. Besser hätte ein Gedächtnis nicht verschoben werden können: Es sei 1982 gewesen, also vor 40 Jahren und zwar exakt an diesen Märztagen, da hat ein damals gänzlich unbekannter Franz Thaler aus Reinswald im Sarntal im Sonntagsblatt einen Leserbrief veröffentlicht. Der Scheiber wies sich darin als ehemaligen Häftling des Nazi-Konzentrationslagers Dachau aus und rügte, höflich und ganz ohne Polemik, seine Südtiroler Mitmenschen für ihre etwas laue bis gar nicht vorhandene Erinnerungskultur. Es war dieser Leserbrief, der sechs Jahre später (1988) zu Franz Thalers mittlerweile berühmtem Buch „Unvergessen“ führte. Frau Reitsamer hatte so die Corona-(Termin-)Not flugs in eine Tugend verkehrt. Der nachgeholte Nachmittag vom letzten Freitag wurde zur 40-Jahr- Jubiläumsveranstaltung.Es wurde ein schöner Franz-Thaler-Nachmittag. In diesem doch zahlreichen Publikum aus ausschließlich Lehrerinnen saß keine einzige, die das Thaler-Buch nicht schon gelesen hatte. Ich hatte das gleich gleich verstanden, und also blieb mir nichts übrig, als etwas ab- und jenseits vom Büchl den sympathischen Sarner Helden zu erklären. Ein bissl erzählen wollte ich. So wie Franz Thaler selber mit Erzählen zu den Menschen gefunden hat, und nicht mit Dozieren. Und das Wichtigste: Er hat es nie an Humor mangeln lassen.Ein Beispiel: Es war am 5. März 2015, Franz Thalers 90. Geburtstag. Er und seine Frau Anna waren zu der Zeit im Sarner „Spital“, Landeshauptmann Arno Kompatscher kam auf Besuch. Geburtstagskind und Gratulant unterhielten sich ein Weilchen, irgendwann erkundigte sich dieser, „Franz, wo hast du denn die Frau?“ Antwortet der Franz: „Die Nanne ist untertags drüben in der anderen Abteilung, aber die Nacht kommt sie schon, und das ist die Hauptsache.“ Ist hier jemand, der das als sexistisch empfände? Ich bitte.Ich habe das schöne Begräbnis am Allerheiligen-Vorabend von 2015 in Reinswald in Erinnerung gerufen. Auch da hatte der Landeshauptmann eine schöne, gescheite Rede gehalten. Kompatscher pflegt überhaupt wie kein SVP-Politiker bisher konsequent eine antinazistische Erinnerungskultur. Im Nachruf auf Franz Thaler schrieb ich damals „vom Glück der Einfachheit“. Franz Thalers Widerstand hatte nichts Heroisches an sich. Er hat sein Heldenschicksal nicht gesucht, es passierte ihm. Er missionierte nicht. Das Außergewöhnliche an ihm war, dass er sich im größten denkbaren Ausnahmezustand normal, selbstverständlich benahm. Die Thaler-Töchter erzählen, der Vater habe daheim nie über seine KZ-Gefangenschaft geredet. Sie selber hätten alles erst durch das Buch erfahren. Vielen im Publikum war das unverständlich. Sie wollten wissen, warum er nicht erzählt habe. Da stand eine ältere Frau auf, sie war früher Lehrerin in Reinswald. „Was hätte der Franz groß reden sollen, wenn drinnen noch alles Nazi waren. Leute, die ihn damals verraten und ausgeliefert haben.“ Es widersprach niemand.Mir war der Zwischenruf Gelegenheit, auf das neulich geführte Gespräch in der ff mit Martha Ebner und Leopold Steurer über die Optionszeit zu verweisen. Darin erzählte die „Dableiberin“ Martha Ebner von einem bei ihr stattgefundenen Treffen mit ehemaligen Optanten-Propagandisten. „Da war’s ganz gleich wie vor dem Krieg“, erzählte Frau Ebner. „Alle der gleichen Meinung, sie sind über die Dableiber hergefahren. Unglaublich! Die alten Gedichtlein von 1939 gegen die Dableiber haben sie sogar noch gebracht.“ Verständlich, dass das Kleine-Leute-Kind Franz Thaler es vorgezogen hat, mit der historischen Wahrheit nicht vor das Dorf zu treten. Das Buch später lieferte freilich den Beweis, dass Öffentlichkeit ein Schutz ist. Dazu musste Franz aber erst ermutigt werden, und dafür zu danken ist jenen, die ihm dabei geholfen haben: die eigenen Kinder, der Historiker Leopold Steurer, der Lehrer Franz Pfattner und der Priester Balthasar Schrott. Die Erinnerung daran, wie Zeitzeugen vielfach nur durch Schweigen und Verdrängen ihres Minderheiten-Schicksals wieder einigermaßen in die Gesellschaft zurückfanden, bewog mich, ein Beispiel aus meiner persönlichen Bekanntschaft zu bringen. Mein Patenonkel Peppe kam 1954 als einer der letzten Südtiroler aus der russischen Gefangenschaft heim. Er übernahm wohl den Hof daheim, heiratete, gründete Familie, hatte Kinder, fand aber nie mehr wirklich ins Dorfleben zurück. Er blieb ein Fremder. Wen wundert’s, nach 10 Jahren Gefangenschaft. Auch er erzählte nicht. Es war, als ich mich schon oppositionell engagierte und wir einmal ins Gespräch kamen, da sagte er mir: „Weißt du, Florian, bei den Russen gibt’s schon auch gute Menschen“. So als ob er mir ein Geheimnis anvertrauen wollte, sagte er es mir, achtend darauf, ob wohl niemand sonst zuhört. Vor dem Hintergrund der Geschehnisse dieser Tage mag diese Aussage doppelt betroffen machen: „Bei den Russen gibt’s auch gute Menschen“ – heute gesagt, könnte es leicht als Parteinahme missverstanden werden.Noch ein treffendes, wiewohl resignierendes Beispiel für die menschliche Unbelehrbarkeit brachte ich. Eine Aussage des Langzeit-Oberbürgermeisters von Stuttgart (1974 – 96), Manfred Rommel, Sohn des berühmten Wehrmachtsgenerals Erwin, genannt Wüstenfuchs. Der sagte: „Ich bin überzeugt, Menschen aus der Nazizeit würden heute so reden und handeln wie wir. Und die Menschen heute hätten sich im Dritten Reich so verhalten wie jene, die damals gelebt haben“. Eine fürwahr desillusionierende Erkenntnis, aber gerade in diesen Tagen wieder schwer widerlegbar.Vom verfemten Störenfried zum vereinnahmten Widerstandshelden – auch das ist der Lebensweg des Franz Thaler. Josef Rampold erlaubte sich noch im November 1979 in den „Dolomiten“ die Behauptung: „Der Heldenmut eines Ritterkreuz-Trägers ist um Vieles größer einzustufen als jener, den Mayr-Nusser mit seiner Weigerung, den Eid auf Adolf Hitler zu leisten, aufgebracht hat“. Gleiches ist hundertfach über Franz Thalers „Unvergessen“ gesagt worden. Thaler war immun gegen solche Art Anwürfe. Er war sanft von Gemüt gleich wie von Gestalt, aber wenn er über einen Nazi sprach, dann hieß er ihn auch Nazi. Ohne scheu, mit der größten Selbstverständlichkeit. „Nazzi“ sprach er es aus, was härter klang, aber nicht beabsichtigt war.Unvermeidlich später, mit dem Erfolg des Buches, das mittlerweile in sechster Auflage erschienen und außer ins Italienische auch ins Englische und Ladinische übersetzt ist, dass auch die große Vereinnahmung des Franz Thaler begann. Andere schrieben Bücher über ihn, machten Filme, eine Oper gab es (2004 von Richard Sigmund, einem Freund Thalers, der aufpassen musste, dass nicht Kulturlandesrat Bruno Hosp ihm die Geschichte abluchste). Linke, Alternative, Deutsche, Italiener, alle rissen sich um den Sarner. Er wird Ehrenbürger der Stadt Bozen, erhält den Südtiroler Pressepreis, Staatspräsident Mattarella, Kammerpräsidentin Boldrini schicken ehrende Botschaften, am „Hügel der Weisen“ in Firmian wird ihm ein Bäumchen gepflanzt. Fast bleibt zur Kenntnis zu nehmen, was Max Frisch bezogen auf Bert Brecht gesagt hat und was inzwischen auch für Alexander Langer und seinen Aufnahme auf die Altäre gilt: „Er hat die Wirkungslosigkeit eines Klassikers erreicht“. Schicksal aller Großen eben. Und Franz Thaler gehört dazu. Zum Abschluss meiner Betrachtungen spekulierte ich halbernst noch ein bisschen darüber, wohin die Franz-Thaler-Verehrung etwa noch führen könnte. Zur Heiligsprechung wird es nicht kommen. Um im Bild zu bleiben, tippe ich eher auf eine Selig-Heinrich-von-Bozen-Karriere. Dieser Bozner Bauernknecht aus dem 13. Jahrhundert soll es nach seinem Tod in Treviso als Poverello bei der einfachen Bevölkerung zu einer Beliebtheit und Wundertätigkeit gebracht haben, die der geistlichen Obrigkeit nicht mehr geheuer war. Um einer drohenden Heiligsprechung zuvorzukommen, habe der Bischof von Treviso die bebende Volksfrömmigkeit mit einer billigeren Seligsprechung abgefunden. Franz Thaler würde schelmisch schmunzeln über solch ein Geriss um ihn.Der Franz-Thaler-Nachmittag im Waltherhaus endete mit einem köstlichen Krapfen-Buffet, gebacken und gereicht von der Geschäftsführerin des Katholischen Südtiroler Lehrerbundes.