Einfach gut
Zum Tod von Hans Grießmair, dem Erforscher und Bewahrer der Welt, aus der wir alle kommen.
Als stürbe es sich leichter mitsammen: Im Brixner „Cafè am Gries“ fiel bis vor kurzem eine etwas aparte Tischgesellschaft auf. Immer Samstag vormittags um 9, immer in gleicher Besetzung. Sie selber nannte ihr regelmäßiges Stelldichein „die heilige Stunde“. Heilig war sie nicht, aber die Teilnehmer waren alles fromme, gebildete Männer, und diese eine „heilige Stunde“ im Cafè am Gries war mit Sicherheit die geselligste in ihrer sonst von Arbeit und Studium zugepackten Woche. Damit ist jetzt Schluss. Mit Hans Grießmair, dem Volksgelehrten, hat der Letzte den Samstag-Tisch verlassen. Weggestorben. Vor zwei Monaten traf es Karl Gruber, den kirchlichen Denkmalpfleger. Noch ein paar Monate vorher starb Hubert Walder, der den beiden anderen ein Beamtenleben lang die Kunstfotos lieferte. Der Vierte vom Tisch, Hofburg-Direktor und mein Bruder, verdrückte sich mit der Pension ins Ausland. Und ginge man noch ein paar wenige Jährchen zurück, hätte man dort noch den Bildhauer Martin Rainer und die Frohnatur Mario Parmeggiani angetroffen. Es war eine Wiener Kaffeehaus-Seligkeit, halt „heiliger“ und eben Brixen.
Am Freitag ist Hans Grießmair gestorben. Er war 83. Heute, Dienstag, wird er in Milland begraben. Erst vor vierzehn Tagen hat er seinem Freund Karl Gruber einen Nachruf geschrieben, so wie er das für jeden seiner Tischgenossen vom „Sand“ getan hat, soweit sie gestorben sind. Die Todesanzeige für den Volkskundler, Museumsgründer, Publizist und Buchautor liest sich wie der Katalog von Landesehrungen. Er hat sie alle erhalten, und wie bei kaum einem anderen wird bei Hans Grießmair nie auch nur ein Fünkchen Verdacht aufkommen, er hätte um eine Auszeichnung je vor irgendwem geschwänzelt. Eher hat sich dieser hochgelehrte wie bescheidene Wissenschaftler und Kulturpfleger vor Ehrungen gedrückt. Er war ein Pflichterfüller. Mit einer selbstausbeutend hohen Auffassung von Pflicht, aber nie dienerisch, geschweige untertänig.
Hans Grießmair der Volkskundler. Der Begriff Volkskunde ist heute etwas angestaubt. Riecht nach Blut und Boden. So wie aufklärerische Südtiroler sich bemühen, nicht länger von Volksgruppen, sondern von Sprachgruppen zu sprechen (wie es übrigens auch das Autonomiestatut tut), so spricht man von Hans Grießmairs Wissenschaft heute lieber von Kulturwissenschaft, Ethnologie oder schlicht Alltagskultur. Hans Grießmair hätte man damit sehr einverstanden gewusst. Er hatte eine moderne Auffassung von seinem Fach. Keine volkstümelnde. Und sein Volkskunde-Museum – man muss sagen sein! – ist ganz und gar keine Verklärung alten Bauernlebens. Nichts von dem Kitsch, wie er landauf-landab an den zu vielen in alte Bauernseligkeit getunkten Törggelestädeln zu beklagen ist. Es ist Tiroler Sozialgeschichte, gerettete Alltagskultur der einfachen Leute.
Kein Museum im Land trägt so die Handschrift seines Gründers, Erbauers und jahrzehntelangen Betreuers wie das Landesmuseum für Volkskunde an seinen drei Standorten in Dietenheim (Bergbauern), Kaltern (Weinbau) und Schloss Wolfsthurn -Mareit (Jagd und Fischerei). Sie sind Anschauungsunterricht über die Welt, aus der wir kommen. Was seinerzeit ein Deutschlehrer dem widerborstigen Schüler Norbert C. Kaser ins Abschluss-Bewertungsurteil geschrieben hat: „mehr am Leben gereift als an der Schule“, das kann auch für Hans Grießmair gelten. Alles, was er später studiert und noch später gemanagt hat, hat er zuerst er-lebt.
Vorausgeschickt sei: Der Volksweisheit nach seien unter den Tölderern „die Prettauer die Gscheitn“. Hansens Vater ist Prettauer. Als Bauernknecht und Fütterer bringt er mit seiner Frau zehn Kinder (sieben Buben und 3 Mädchen) durch, zieht von Hof zu Hof. Auf Hofern, einer Bergfraktion oberhalb Kiens, kommt Hans zur Welt. Der Vater arbeitet da als Fütterer beim Ehrenburger Graf Künigl. Als Senner auf der Jagdhausalm im Defereggental stirbt er. Die Buben müssen den toten Vater heimtragen.
Hans selber wird auf Höfen herumgeschupft, bis der Pfarrer das helle Bübl zum Studieren „zu den Neustiftern“ schickt. Nach dem Gymnasium (das waren damals die zwei ersten Oberschuljahre wird der Hans Kapuziner. Pustertaler Zeitgenossen erinnern sich noch an das Paterle, wie es bei den Bauern zum Butter- und Wolle-Sammeln kam. Irgendwann, noch vor Theologiestudium und ewiger Profess, warf Bruder Hans die Kutte hin und trat aus. Und prompt, 14 Tage drauf kam die Einberufung zum Militär. Hans soll den Patres solch rüde amtliche Abmeldung vom Orden sehr verargt haben. Nun stand er da, ohne Matura, mit dem Einrückungsbefehl. „Eine verkrachte Existenz“, habe er geklagt.
Verkracht, das war er nicht. Dem Mönchsleben entsprungen, das Militär hinter sich gebracht, machte Grießmair im Eiltempo die Matura nach und inskribierte in Innsbruck Volkskunde und Germanistik. Für seine Dissertation erwählte er zum Thema das, worin er sich am besten auskannte: „Das Leben der bäuerlichen Dienstboten im Pustertal“. Der Dissertant klapperte dafür zu Fuß die entlegensten Höfe ab. Als er auf seiner Forschungstour, 1961 war’s, in Tesselberg oberhalb Gais zuwege kam, da war gerade jene berühmte Anti-Terror-Razzia im Zuge der Fahndung nach den „Pusterer Buibm“ im Gange. Der herumziehende ortsfremde „Forscher“ Grießmair machte sich verdächtig. Die Carabinieri führten ihn ab.
Das Studium sollte den jungen Akademiker geradewegs in sein Arbeitsfeld führen. Beim Land, von der neuen Autonomie erstmals mit Zuständigkeiten ausgestattet, gab es schon lang den Plan eines eigenen Volkskundemuseums. Aber so wie geschmiert sollte alles nicht gehen. Grießmair hatte wohl Titel und Kenntnisse, doch ein anderer hatte Beziehungen. Wie seltsam es anmuten mag, auch der seinerzeitige Tierarzt von Sand in Taufers bewarb sich um die Stelle eines Museumsdirektors. Der promovierte Volkskundler habe den Vorstoß des Konkurrenten damals mit der kecken Frage pariert: „Soll ich dann Tierarzt von Taufers werden?“
Hans Grießmair hätte vermutlich auch das gekonnt. Er konnte und machte alles, was irgendwie mit Kultur zu tun hat. Er gründete das Volkskundemuseum und machte es zum meistbesuchten Museum des Landes – nach dem Ötzi. Er war von 1972 an Schriftleiter der Kulturzeitschrift „Schlern“ und blieb bis zuletzt deren wichtigster Autor. Die Bildbände des Kirchen-Kunstpapstes Karl Gruber wären ohne den Texter Grießmair nicht erschienen. Keiner wird das Land der kleinen Leute besser gekannt haben wir er, und niemand, der darüber forschte, schrieb oder nur erzählen wollte, ging von ihm leer weg. Großzügig gab er alles weiter – gratis. Er war ein Klassiker.
Altlandeshauptmann Durnwalder hat während seiner Regentschaft mindestens ein Dutzend Grießmair-Werke eröffnet oder vorgestellt. Die Komplimente an den Meister trug er dabei gern in der ihm eigenen gespielten Bescheidenheit vor. „Von deiner Kultur“, pflegte er dann tief zu stapeln, „beherrsche ich nur die Agri-Kultur “. Der Geehrte verstand die Ironie, aber die Bescheidenheit und Vornehmheit des solchermaßen Geehrten erlaubten es nicht, dass er darauf die gebotene Antwort gegeben hätte: dass er, der Volkskundler, selbst von der Agri-Kultur mehr verstanden hat. Hans Grießmair war einer jener Ausnahme-Menschen, die in einem Gasthaus gleich wie vor einem akademischen Auditorium sprechen können, in einer Kirche wie bei einem Jahrgangstreffen. Alle hätten ihn verstanden, und überall wär ihm geglaubt worden. Wenn es nicht falsch verstanden würde, die beste Beschreibung für ihn wäre: Hans Grießmair, so wie er aussah, sprach und ging, war die wandelnde Volkskultur. Er starb an einem Krebsleiden und hinterlässt die Frau und drei Töchter mit Familien.
Foto: Hans Grießmair (1938 – 2022)