Florian
Kronbichler


Madre Pia

Die Knödeln im Haus mache ich, und das Knödelbrot hole ich bei Frau Pia. Niemand schneidet es so vollendet schön wie sie: nur bei richtiger Trockne, nicht mehr zu frisch, aber noch nicht zu hart, schlanke Stäbchen, wie gehauen, kein Brösel in der Schüssel. Und niemand belegt Jausenbrote so behutsam und reich mit Mortadella oder Pancetta. Mag noch so viel Kundschaft warten, was selten vorkommt, Pia schneidet, füllt und wiegt, als hielte sie ein Kunstwerk in der Hand. Alles hat seine Zeit.

Pia, meldeamtlich Maria Pia Lanaro, ist die letzte Überlebende einer untergegangenen Zeit. Eine Zugezogene aus dem Veneto, wie der Großteil der älteren Bewohner meines Stadtviertels, das Quirein heißt und das Geviert Talferbrücke – Mazziniplatz – Rombrücke – Drususbrücke umfasst. Ich hab das Glück in der Quireinerstraße zu wohnen, die das Viertel von Nord nach Süd durchquert. Ein höchst menschenfreundliches Stadtviertel, erlaube ich mir zu behaupten. Nicht eines von den neuartigen „Zonen“, die ehrlicher Ghettos heißen sollten, weil darin entweder nur gewohnt, nur produziert oder nur Handel betrieben wird. Quirein ist auf glückliche Weise gemischt: sozial, gewerblich, sprachlich, und um das schrumpfende Häufchen deutscher Kirchgänger konkurrieren inzwischen friedlich Bozner Dom und Stiftskirche Gries.

Eine Siedler-Idylle wäre Quirein, wenn nicht der Fortschritt wäre. Ich muss nicht weit zurückdenken, und Wehmut überkommt mich. Dreißig Jahre reichen. Meine Straße hätte oben und unten zugemauert werden können, es hätte ihren Bewohnern an nichts gefehlt. Wir waren autark. Aus dem Gedächtnis nachgezählt, gab es darin 5 Milchhallen (wobei Milch- untertrieben und -Halle übertrieben ist; vollwertige Lebensmittel-Ladelen waren es); 3 Obst- und Gemüseläden, 3 Zeitungsläden, inklusive „Sale e tabacchi“; 3 Metzgereien (eine fürs Rossfleisch); 6 Bars, 2 Restaurants, 1 Pizzeria, 4 Friseur-Salons, 1 Juwelier und 2 Blumengeschäfte, 2 Putzereien. Und erst vom Handwerk: Schuster, Schneider, Glaser, Schlüsselmacher, Hydrauliker, Maler, Eisenhandlung, Buchladen, Kunstwerkstatt, Vogel- und Kleintier-Gehege, Fischer-Ausrüstung, alles da. Eine Fahrschule sogar. Wüsste nicht, wozu ein Quireiner seine Straße hätte verlassen müssen.

So war’s, und es ist nicht lang her. Inzwischen: Ödnis! Eingerostete Tür- und Schaufensterläden. Reihenweise Schilder „vendesi“, „affittasi“. Zwei Tattoo-Läden haben neuerdings aufgetan. Es heißt, Tattoo-Läden seien die neuen Indikatoren für gewerblichen Verfall einer Gegend. Nur die Autos parken noch beidseitig an der Straße. Ein Glück, dass der „Franziskaner“ aus der Stadt kam und den Altbücher-Laden am Eck aufgekauft hat. Hat natürlich nicht den Charme der Milch-und Brot-Ladelen von ehedem, aber die Versorgung ist so halt gesichert.

Überlebt hat Pia, Gott sei’s gedankt. Nicht direkt in der Straße, aber nicht weit davon. Den Weg nehme ich gern auf mich. Von ihr heißt es, dass sie teuer sei, fast nichts hat, aber dass, was sie hat, gut sei. Und sie hat Zeit, genauer gesagt: nimmt sich Zeit, alle Zeit. Wer das nicht schätzt, sagt, sie sei langsam. Ach wo! Solche Gattung Mensch kommt schon nicht mehr zur Pia. Es kommt noch, wer Zeit hat. Ruheständler wie ich, mehrheitlich ältere Frauen. Oder Kinder, die mit dem gezählten Geld von diesen geschickt werden. Wir kennen einander alle, wie im Club. Ich habe uns „Banda Pia“ getauft. Pia bietet „servizio completo“. Die Stammkundschaft findet ihren Tageseinkauf sauber gezählt und gewogen in Säckchen abgepackt vor. Wer Schwierigkeiten hat, sich im eigenen Geldbeutel zurechtzufinden, – kein Problem: Täschchen auf die Theke legen, Pia bedient sich selber. Ihr Sortiment reicht weit über die wenigen Köstlichkeiten in der Vitrine hinaus. Die Sonntagsausflüge nutzt sie, ihre Käse-Lieferanten zu besuchen. Ihren Kundinnen ersetzt sie den Beichtvater, den Psychologen, in Maßen auch den Wirtschaftsberater. Wer sich schwer geht oder schwer zu tragen hat, denen bietet Pia tätige Begleitung an. Sollen wir Gehtüchtigen nur ein bissl warten!

Frau Pia ist schon in Pension. Aber „ich kann meine Klienten nicht allein lassen“, findet sie. Ihre Buchhaltung sagt ihr, dass sie längst eher für den Laden als vom Laden lebt. Sie muss etwas von ihrer Rente zuschießen. Der Rollladen vor der Tür ist kaputt, Pia kann ihn in der Früh nicht mehr allein hochschieben. Noch hilft ihr Paul von der Bar nebenan. Paul ist auch bald pensionsberechtigt, und er macht kein Hehl daraus, dass er mit der Bar dann Schluss macht. Und dann? Wenn halt ich frühmorgens anrücke.


Flor now
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