Ritter der verlorenen Schlachten
Zum Tod von Hans Lunger. Ein politischer Robin Hood, ein Streithansl, ein Moralapostel und Sittenwart, ein wandelnder Volksanwalt. Was war er?
Als vor bald 40 Jahren, 1983 war es, der Südtiroler Landtag sich entschloss, eine Volksanwaltschaft einzurichten, beratschlagten politisch interessierte Leute darüber, was für Voraussetzungen ein künftiger Volksanwalt so haben müsse. Und wieder einmal lieferte der damalige Landtagsabgeordnete Alexander Langer die griffigste Formel für das Ideal von Amt und Person. Er sagte: „Der Volksanwalt müsste ein Hans Lunger sein“.
Der gemeinte Hans Lunger war zu dem Zeitpunkt schon aus dem politischen Spiel. Er war als Gründer und Kopf einer Partei der Unabhängigen (PDU) 1978 in den Landtag gewählt und nach einer Legislatur 1983 nicht wiedergewählt worden. Der untersetzte, breitschultrige, stiernackige Choleriker mit der lauten Stimme und dem stramm gezogenen Scheitel war aber bereits eine Marke in der politischen Fauna des Landes und blieb das. Was der politisch völlig gegenteilig gewickelte Langer mit seiner Diagnose vom idealen Volksanwalt meinte: Es bräuchte einen, der sich für nichts zu schade ist. Einen (an eine dachte damals niemand), der nicht den Leuten erklärt, warum sie Unrecht haben. Nein, einen, der Partei ergreift, konfliktstark ist und den Fehler grundsätzlich bei der Behörde sucht. Einen Anwalt, keinen Versteher, geschweige Schlichter.
All diese volksanwaltschaftlichen Tugenden verkörperte Hans Lunger in hohem Maße, und natürlich wäre er damit nie Volksanwalt geworden. Die Macht setzt sich doch nicht freiwillig die Opposition ins Haus. Opposition war dem gebürtigen Leiferer Sinn und Schicksal. Schon von jung auf. Dass er Rechtswissenschaften studierte, erklärte er stets mit seinem „überdurchschnittlich scharf ausgeprägten Gerechtigkeitsgefühl“ (wörtliches Urteil Lungers über sich selber). Mit seinem Gerechtigkeitsgefühl nervte der Jus-Student Hans Lunger schon den Führungsstil der Südtiroler Hochschülerschaft, die damals unter dem Vorsitz eines bestimmten Luis Durnwalder stand. Er hieß diesen „diktatorisch“.
Als „diktatorisch“, selbstherrlich und kommunistisch empfand der1938 geborene Jurist dann auch den wohl bedeutendsten politischen Schritt, den die Landesregierung gleich nach Inkrafttreten des Zweiten Autonomiestatuts setzte. Es war das Wohnbau-Reformgesetz des allmächtigen (lungerisch: „diktatorischen“) Landesrats Alfons Benedikter mit seinen Enteignungen für den geförderten Wohnbau. Enteignung – allein das Wort roch im damals noch bäuerlicher geprägten Südtirol nach Kommunismus und Fremdherrschaft. Es war die erste negative Kehrseite der Autonomie: Enteignung „der eigenen Leute“. Heute giert bald jeder Bauer um Umwidmung eines Acker- oder Wiesenstücks in Baugrund und sieht darin sein Glück. Damals gehörte noch „Bauernland in Bauernhand“, und Enteignung (selbst gegen Vergütung) war Diebstahl.
Es taten sich Südtirols „Haus- und Grundbesitzer“ zusammen. Die Vereinigung war in den 70er Jahren eine ernst zu nehmende politische Bewegung, und Hans Lunger schwang sich zu ihrem Herold auf. Er wird zum landesweit angerufenen Fürsprecher aller von der Landesverwaltung kujonierten Haus- und Grundbesitzer. Wiewohl an der Anwaltsprüfung trotz wiederholter Anläufe immer gescheitert, wofür ihn die eingebildete Advokatengilde zeitlebens hänselte, wurde Lunger zum Vertrauensvertreter der kleinen Geprellten. Wem Enteignung drohte, der ging zum Lunger. Er war Volksanwalt in des Wortes wörtlichem Sinne. Ohne öffentliche Weihen halt, und ohne Stempel, aber wirksam. Die Kleinen, Zukurz-Gekommenen, gingen zum Doktor Lunger, die Großen zum Avvocato Dragogna, der zwar italienisch war, aber für allmächtig galt.
Die Bewegung schwemmte ihren Herold bei den Wahlen 1978 in den Landtag. Hier war er Volksanwalt auf institutioneller Kanzel. Wie kein Zweiter lernte Hans Lunger Lust und Frust eines Einmann-Fraktionärs im Parlamentarismus kennen. Er predigt und predigt, predigt laut, und wird niedergestimmt. Systematisch und ohne Begründung. Hans den Gläubigen (gläubig nicht nur religiös verstanden) verdross das sehr. Er verlegte sich deshalb mehr und mehr auf die Kundenbetreuung außer (Hohem)Haus. Immer hatte Lunger vor Ämtern zu tun. Zwischen politischen und privatberuflichen Verpflichtungen unterschied er nie. In der Stadt erkannte man den Lunger an seinem Radl und der dicken schwarzen Aktentasche, die er am Gepäcksträger immer bei sich hatte. Aus Landhäusern erzählt man sich, dass die jeweils angesteuerten Beamten sich hinter Vorzimmern verbarrikadierten oder in die nächste Bar flüchteten, wenn sich herumgesprochen hatte, „der Lunger kommt“. Auch in Ämtern und vor Gericht scheute der Volksvertreter sich nicht, bei Bedarf laut zu werden. Seine Agenden waren ihm Pflicht und jeden Streit wert.
Bei allem Fleiß, der unstrittig war, die Gabe der Allgegenwart hatte der Vielbeschäftigte nicht. So pflegte er, um zu bedeuten, dass er sehr wohl da sei, aber momentan in wichtigeren Dingen unterwegs, zu Beginn der Sitzungen seine berühmte Tasche immer gut sichtbar an seinem Platz im Landtagssaal zu postieren. Alle sollten verstehen: Der Lunger fehlt nie. Die Tasche ist jedenfalls da.
Die Abwahl 1983 aus dem Landtag, das Zerwürfnis mit der Partei, später der Hinauswurf aus dieser, das alles verbitterte Lunger den Löwen sehr. Ohne politisches Amt, ohne gesetzliche Zulassung als Anwalt stand er da. Hans Lunger, von Beruf nur noch Hans Lunger, brauchte neue Aufgaben. Und neue Aufgaben bedeutete zwangsläufig neue Gegner. Lunger fand sie im Kampf für katholische Rechtgläubigkeit und gegen den allenthalben hereinbrechenden Sittenverfall, den sexuellen zumal. Lunger war so wie als Politiker auch in der Moral Fundamentalist. Mit aller Gewalt und Redekraft warf er sich fortan in Schlachten gegen Sexualaufklärung in den Schulen, forderte Säuberung von Schulbüchern. Die Aufhebung der Kriminalisierung von Abtreibung war staatlich geförderter Mord. Er sprengte Kirchenversammlungen. Die Lehren des Zweiten Vatikanischen Konzils waren Irrlehren. Dem sanften Bischof Wilhelm Egger war „der Lunger“ ein ständiger Alptraum. So sehr fürchtete er dessen Auftritt bei Sitzungen oder auch nur die systematischen Eingaben des Sittenwarts bei der kirchlichen Obrigkeit in Rom.
Es liegt wohl am Wesen des Fundamentalisten, dass sich mit dem Inhalt auch die Sprache radikalisiert, um nicht zu sagen: verroht. Lungers Schreiben waren seit je Predigten. Immer troffen sie vor Moralin. Mit zunehmendem Eifer (oder war es wegen abnehmender Wirkung?) wurde Lungers Sprache brutaler. Er drohte nur noch. Wünschte den Sündern (zu denen er alle Herrschenden, politische wie kirchliche, zählte) ein vorgezogenes Jüngstes Gericht mit ewiger Verdammnis an. Widersprechende überzog er mit gerichtlichen Klagen, bis solche von niemandem mehr ernst genommen wurden.
Je länger Hans Lunger agitierte (fürs Gute und Gerechte, selbstverständlich), umso mehr vereinsamte er. Auch das ein Drama des Fundamentalisten. Er musste einem Leid tun, wenn man ihn bis vor einigen Jahren sah, wie er, mit dem alten Radl und der ewig gleichen Tasche hinten drauf, in der Weintraubengasse anhielt, beides in den finsteren Gang zu seinem ehemaligen Büro hineintrug und dann zum „Feichter“ auf ein einsames Glasl ging. Er hatte niemanden mehr. Nicht einmal mehr jenen Armin Benedikter, Sohn des Alfons, den er eine Zeitlang zum Verbündeten hatte in den verlorenen Schlachten gegen straffreie Abtreibung, vorehelichen Sex und nachkonziliäre Messfeier. Um beide ist es schon eine Weile still geworden. Hans Lunger ist am Montag, 8. August, gestorben. Ein Don Quichote? Ein Robin Hood? Ein Michael Kohlhaas? Dieser sagt zum Schluss: „Es muss Gerechtigkeit geschehen, und gehe auch die Welt daran zugrund!“ Könnte von Hans Lunger sein.