Florian
Kronbichler


Grad grad kein Wunder

 

Evet vor hayir, ja vor nein, 51,2 zu 48,8. Erdogan, jetzt Sultan, gewinnt das Referendum und kündigt in der Wahlnacht gleich das nächste an: für die Wiedereinführung der Todesstrafe – „im Namen des Volkes“. Die Türkei, das 80-Millionen-Volk am Bosporus, das der Europäischen Union um einen Schandpreis von 4 Milliarden Euro 4 Millionen Syrienflüchtlinge vom Hals hält, verabschiedet sich von Europa. Wie knapp und wie umstritten auch immer, das Referendum vom Ostersonntag hat einen neuen Staat geschaffen: alle Macht dem Präsidenten, und dieser wird, so er will, bis 2029 Recep Tayyip Erdogan heißen. Gut Nacht!

 

Doch verfallen wir nicht in Depression. Wir könnten auch etwas lernen an der Türkei: 86 Prozent Wahlbeteiligung! Bei so vielen Menschen in einem solch riesigen Land mit Unterschieden wie sonst in keinem in Europa. Und das von 8 Uhr früh bis 5 Uhr Abend (Nachmittag müsste man sagen). Im Vergleich, wir in Italien wählen sonntags von 7 bis 22 Uhr und noch den halben Montag drauf, den zu streichen wir uns nicht getrauen, weil dann die Wahlbeteiligung fiele. Drum ein Lob den wahlfreudigen Türken. Jenen, denen die Demokratie in ihrem Land noch ein Anliegen ist. Denn diese waren es, die Nein-Sagen, die die Wahlbeteiligung derart außerordentlich nach oben trieben.

 

Wäre die Wahl Ausdruck jenes Anblicks geblieben, das die Städte und Straßen der Türkei wochenlang vor der Abstimmung von sich gaben, es hätte ein triumphaler Durchmarsch der Ja-Sager werden müssen. Wer am Atatürk-Flughafen in Istanbul ankam, sah sich in ein Väterchen-Stalin-Land versetzt: Die Straßenzüge in die Innenstadt (so es in der 15-Millionen-Metropole eine solche gäbe) überspannt, eskortiert und ausstaffiert von Erdogan- und Evet-Fähnchen. Die Plakatwände wie im Block alle reserviert für das eine Evet – Ja. Gut positionierte Häuserfassaden – und die Häuser sind hier hoch! – von oben bis unten verhangen mit dem Konterfei des Staatspräsidenten, der Führer werden will. In Ankara, der Hauptstadt, die „nur“ 5 Millionen Einwohner zählt, das gleiche Bild. Man hätte an amtlich verhängtes Konkurrenzverbot glauben müssen.

 

Es ist wie immer mit Wahlen und Wahlberichterstattungen: Ist einmal ein Ergebnis da, interessiert alles, was war, nicht wirklich mehr. Ich befinde mich seit den letzten Vorwahltagen als Wahlbeobachter des Europarats in der Türkei. Wir sind unser etwa zwei Dutzend, aus den verschiedensten Ländern Europas. Ich bin der einzige vom italienischen Parlament und habe mir, nach zweitägiger „Einschulung“ in Ankara, als speziellen Beobachtungsstandort die heimliche Hauptstadt Istanbul ausgewählt. Sich als „Italiener“ ausweisen zu können, ist in der Türkei so wie in vielen Ausländern ein Startvorteil. Es gehört sich, Italien für seine Schönheit zu preisen und die Italiener nette Leute sein zu lassen. Die Europa-Regie hat mich mit einer finnischen Beobachterkollegin zusammengespannt. Finnland gilt in der momentan mit ganz Europa beleidigten Türkei auch nicht gerade als Feindesland, doch der Vorzug gilt eindeutig mir. Italien ist Freund. Schade nur, dass es nicht mehr Berlusca-Italien ist. Berlusconi und Donald Trump. Die beiden nennen sie mir immer wieder im Paar. Ich muss es somit mit Erdogan-Wählern zu tun haben.

 

Der Böse im Stück ist eindeutig Deutschland. Deutschland und Holland. Weil aber in der Türkei, so wie bei uns, kein Mensch einen holländischen Politiker kennt, ist die Verkörperung des Bösen „die Merkel“. Dabei hätten die Erdogan-Türken Angela Merkel und den namenlosen Holländern dankbar zu sein. Deren Auftritt-Verbot für türkische Wahlkämpfer in Köln und Rotterdam hat den ohnehin schon sehr ausgeprägten Patriotismus der Türken akkurat zu dieser Vorreferendumszeit weiter anschwellen lassen. Wahlsieger Erdogan (so er es denn bleibt) hat in der Wahlnacht ausdrücklich den „Ausland-Türken“ für ihr patriotisches Votum gedankt. Die Deutschland-Türken wählten zu fast 70 Prozent Erdogan. Seinen Anderthalb-Prozent-Sieg hat der Sultan von morgen dem Hass auf die böse Merkel zu verdanken.

 

Bei allem Bemühen um Objektivität und Diskretion, derer ein internationaler Wahlbeobachter sich zu befleißigen hat: Ich erlaube mir trotzdem eine Meinung, und selbst abgesehen davon ist eine gewisse Solidarisierung mit der Opposition unvermeidlich. Man ist dazu da, Übermacht aufzudecken und minderheitlichem Widerstand zum Durchbruch zu verhelfen. Der Widerstand gegen die Allmachtergreifung Erdogans ist so stark wie vielfältig und mitunter recht kraus. Die Stärke ist ausgezählt und hat 48,8 Prozent. Bis jetzt, wohlgemerkt. Denn die Opposition, die am Wahlabend nicht gewonnen hat, ist immerhin so stark, dass sie glaubwürdig Nachzählung verlangen kann. Sie spricht von Schwindel, von Behinderungen, wir Beobachter notierten „Auffälligkeiten“. Die Europarat-Beobachterdelegation wird heute Nachmittag in Ankara ihren Bericht vorstellen.

 

Nun stimmt, dass Stimmen gezählt werden und – im Unterschied zu Aktien – nicht gewogen, doch die Stärke des Widerstands gegen Erdogan und seinen autoritären Staat misst sich auch politisch-psychologisch. Es ist die modernere, die europäischere, die gebildetere, säkularere, jüngere Türkei, die „hayir“ – nein – gesagt hat. Die drei bedeutendsten Städte, Istanbul, Ankara, Izmir, haben Hayir-Mehrheiten, die höher entwickelten Küstenregionen sowohl am Mittel- als auch am Schwarzen Meer haben „hayir“ gesagt. Die Mehrheiten für Erdogan kommen aus den Weiten der Inner- und Ost-Türkei.

 

Ich sage vereinfachend „für Erdogan“. Aber so ist es nun einmal, und zwar fast immer bei Referenden – siehe unseres über Renzis Verfassungsreform: Es wird am Ende über die Regierung entschieden und nicht über die Frage, die gestellt ist. Immer. Fällt mir auf: Bei uns steht bei Referenden auf dem Stimmzettel die immer lange Frage, und kein unverdorbener Mensch versteht sie. Das türkische Referendum hat auf seinem Stimmzettel die Frage gleich ganz weggelassen. Evet – Hayir, Ja oder nein. Die wenigsten wussten, wozu genau, aber jeder verstand es.

 

Fällt mir noch ein: Wie werden sich heute Frau Nuria und ihr Mann, der Literaturlehrer, an dem schäbigen Platz in Ankara fühlen? Sie harren dort sitzstreikend aus seit nunmehr fast 6 Monaten: gegen die Diktatur Erdogans. Der sanfte Lehrer ist in dieser Zeit insgesamt 27 Mal verhaftet worden. Wegen „ungebührlichen Benehmens“. Einmal saß er für fünf Tage. Seit 37 Tagen befindet er sich zusätzlich in Hungerstreik. Sympathisanten bringen frische Blumen vorbei. Frau Nuria steht ihm tapfer bei. Sie zeigt mir einen Zeitungsausriss aus der „Frankfurter Rundschau“ mit dem Titel: „Die Heldin von Ankara“. Das ist sie. Zum Referendum gehen beide nicht hin. „Alles nur Ablenkung!“, sagen sie.

 

Am Sonntag Abend nach Schließung der Wahllokale und Eintreffen der Teilergebnisse, die anfangs niederschmetternd sind, macht sich der in einem Café in Istanbul versammelte Widerstand Mut. Zunächst: Das sind die Ergebnisse vom Osten. Dort schließen die Wahllokale eine Stunde früher. Dann: Die Wahlzentrale schönt die ersten Hochrechnungen, damit die Oppositionellen resignieren und heimgehen statt zu Kundgebungen. Aus Sicherheitsgründen. Das tut sie immer. Später: Die Großstädte! Istanbul! Es fehlen noch die Großstädte. Warten wir! Am Ende: Meldungen von Wahlfälschung, „von überall her“. Ergebnis wird angefochten.

Dass sie mir nur meine „Heldin von Ankara“ und ihren widerständischen nicht-wählenden Literaturprofessor nicht fürs Gerade-nicht-Wunder haftbar machen!

 

Florian Kronbichler


Flor now
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