Florian
Kronbichler


Demokratiebeschau daheim bei Stalin

Als Wahlbeobachter des Europarats im Kaukasus-Staat Georgien.

 

Georgien, das ist das Land „am Rande Europas“. Es ist der südöstliche Winkel des Kontinents, so groß wie Bayern, mit einem Viertel von dessen Einwohnern (3,7 Millionen). Die Landschaft, heißt es, sei so schön, dass nur seine Frauen noch schöner seien. Seine Hauptstadt heißt Tbilisi (1,3 Mio. Einwohner), aber bekannter als diese ist das zehnmal kleinere Gori, das die Geburtsstadt von Josif Stalin ist, dem Schustersohn, der zum Sowjetdiktator aufstieg. Ihm sind in dem sonst verwahrlosten Nest ein Museum, eine Avenue und der einzige Park gewidmet. Zahlreiche Stalin-Devotionalienläden, aber auch Billigkaufhäuser schüsseln mit dem „Väterchen“ von einst ihr Überleben.

 

Kulturell ist man hier sehr um europäisches Gehabe bemüht. Das Ziel der Mehrheitsparteien ist ein Anschluss an die Europäische Union und nicht minder an die Nato. Der Feind ist der nördliche Nachbar Russland, der der jungen, kaum in die Demokratie entwichenen Schönen erst vor acht Jahren (2008) seine letzte kriegerische Aufwartung bereitete. Dabei behielt Putin sich zwei Regionen zurück. Die Georgier sagen „besetzt“ dazu und unterhalten keine diplomatischen Beziehungen mehr mit dem „Bruderstaat“ von einst. Es ist eine Geschichte ähnlich der mit der Ukraine und der Insel Krim. Georgien wie die Ukraine sprechen von „Überfall“ und „Besetzung“, die mehrheitlich russischen Bewohner der nun offiziell von Moskau unterstellten Regionen von „Selbstbestimmung“.

 

Samstag fanden Parlamentswahlen statt in dem Staat der Tschwilis und der Dzes zwischen Schwarzem Meer und Kaukasus. Viele kennen noch den ersten Präsidenten der in den 90ern unabhängig gewordenen Republik, Eduard Shewardna-dze, und werden den Sieger dieser Wahlen, den Milliardär und reichsten Mann des Landes, Iwanitschwili, kennen lernen. Auf –dze und –tschwili enden hier alle Namen. „Väterchen“ Stalin (was ein Widerspruch ist, denn Stalin kommt von Stahl) schrieb sich in Wirklichkeit Dzugatschwili.

 

Ich war im Auftrag des Europarates drei Tage lang als Wahlbeobachter in Georgien. Wahlbeobachter, das ist eine Mischform von Botschafter, Kontrolleur und Höflichkeitsbesucher. Alle internationalen Organisationen, von der OECD bis zur Nato, vom Europaparlament zum eben genannten Europarat, aber auch Nichtregierungsorganisationen, sogenannte NGO, oder schlicht Staaten für sich, mit großer Vorliebe die USA, schicken ihre „Beobachter“ zu Wahlterminen in Staaten, speziell in solche mit wirklichen oder angeblichen Demokratie-Defiziten. Mitunter wird dies von den zwangsbesuchten Staaten als Misstrauen und Demütigung empfunden, bestenfalls als Einmischung. Das ist momentan etwa bei der Türkei der Fall. Georgien tut zumindest offiziell so, als würde es sich freuen über die vielen Politbesuche. Es bewirbt sich um Aufnahme in EU und Nato. Da schickt es sich, „Transparenz“ zu demonstrieren. Und außerdem, das vertraute mir mein dolmetschender Begleiter an, außerdem „werdet ihr Beobachter ja alle von euren eigenen Parlamenten bezahlt. Für uns seid ihr Qualitätstouristen.“

 

Ja, Qualitätstouristen. Der Europarat, und alle anderen Internationalen wohl auch, geben ihren Wahlbeobachtern ein strenges Protokoll vor: Donnerstag-Freitag wurde eingeschult, und Samstag, Wahltag, legten wir los. Je zwei Beobachter mit Chauffeur und Dolmetscher (Georgisch-Englisch). Ich wurde mit einem englischen Lord zusammengespannt, und das empfand ich als Glück. Lord Richard Balfe, den ich bald „Richard“ rufen durfte, ist ein Veteran des Wahlbeobachterwesens. 25 Jahre lang saß er im Europaparlament (von 1984 bis 2009), dann berief ihn Premierminister Cameron ins House of Lords, das britische Oberhaus. Er ist konservativ und war Brexit-Gegner, fürs Bleiben. Aber nicht erst seither kennt er sich aus mit Referenden. Mich ansprechend aufs bevorstehende Verfassungsreferendum in Italien sagt er: „Glaub mir, Florian, bei einem Referendum geht’s nie um die Frage, immer nur um die Regierung,.“

 

Den ganzen Tag lang besuchen wir Wahlsitze. Von früh um halb 8 bis Abend um halb 9 (in Georgien geht die Uhr 2 Stunden vor) haben wir 15 Wahlsitze inspiziert und an die 400 Kilometer abgespult. Wir haben vorgefasste Formulare mitgebracht, ich befrage und schreibe, der Lord: beobachtet und lobt. Es fiele schwer, die angetroffenen Wahlkommissionen nicht zu loben. Sie werden einem nicht alles zeigen. Die Frauen – es sind durchwegs Frauenmehrheiten, wenn nicht gar nur Frauen, und die Kommissionspräsidentin ist es immer – geben professionell Auskunft. So wie sie ihr Handwerk beherrschen, werden sie aber auch Übung im Umgang mit Kontrolle haben. Es war immer alles in „Ordnung“. Jedenfalls hätten wir nie das Gegenteil zu behaupten Gelegenheit gehabt.

 

Unser Fragebogen war detailliert bis zur Kleinlichkeit: Wie es mit dem behindertengerechten Zugang stünde? Mein Gott, bei den Hütten, in denen manche Wahllokale unterbracht waren! Ob einer dem andern beim Wählen „half“? Ob die Wahlurne für alle Kommissare und Parteienvertreter (immer -Innen, denn es waren entweder alles Frauen oder höchstens Frauengruppen mit Mann) auch wohl von allen Seiten ungehindert einsehbar sei? Eine Frage lautete, ob „Wahlmaterial in der Sprache nationaler Minderheiten verfügbar“ sei. Die Antwort darauf war jedes Mal nein. Ich frage, warum nicht? Antwort: „Wir haben hier keine Sprachminderheit“. Es ist ein georgisches Tabu, das an Südtirol erinnert: Minderheit ist man nur selber. Konkret als Georgier nur in den russisch besetzten Gebieten. Dort wurde nicht gewählt. Gelegentlich erlaube ich mir, mich ein bisschen zu wundern, und hake nach. Lord Balfe schlichtet dann gleich. Es sei landestypische Gepflogenheit. Frau Kommissarin, in der Regel Lehrerin, sieht mich vertrauensselig an, der Lord fragt: anything else?, und ich schreibe ok.

 

Es ist Landes-, Volks- und Demokratiekunde im Schnelldurchlauf. Wir finden Wahllokale, selbst in der Hauptstadt Tbilisi, die ließe unsere Tierschutzbehörde nicht immer als Stall durchgehen. Hier dienen sie in der Regel als „Kulturhaus“. Dann kommen wir wieder in Kindergärten, die wahre Schmuckkästchen sind. Mit Garten, Sandkasten und Rollenrutsche. Diese sind dann oft von „befreundeten Staaten“ gestiftet. Verglichen mit den Wohnhäusern ringsum sind die meisten Wahllokale doch höherer Standard. Das Land präsentiert sich trocken, die Dorfstraßen staubig und: voller Tankstellen. Benzin ist reichlich und billig. Auffallend die wild durch Gegend gelegten Gasleitungen. Nicht zu übersehen: Georgien ist der Flaschenhals des euro-asiatischen Erdöl- und Gastransportes.

 

Mir fallen in Städten und Dörfern die vielen großen Autos auf: „Alles Gebrauchtwägen aus Europa“, weiß mein Lord. Der Dolmetscher bestätigt. Es rußt und stinkt ungeheuerlich. Die Schönheit von Tbilisi ist eingetrübt von einer Smogdecke und übertönt vom Verkehrslärm. Offenbar muss hier erst noch ein Weilchen Natur verhunzt werden, bevor Ökologie zum Thema wird. Es gibt dringendere Fragen. Ein Universitätsprofessor verdient 350 Euro im Monat. Zehn Prozent von einem bei uns. Bei den Preisen besteht kein so großer Unterschied.

 

Am Ende des Tages haben wir lauter guter Nachrichten ins Zentralbüro im Hotel Biltmore mitzubringen. Den anderen Abordnungen, ein Dutzend, geht’s genau so. Für alle alles paletti in der jungen Demokratie. Ob wir uns wirklich in der „demokratischen Insel“ befinden, wie Georgien inmitten all der autoritären Staaten des Kaukasus’ gern genannt wird? Am nächsten Tag, heute, Sonntag früh, hören wir von einer deutschen OECD-Funktionärin, es habe bei der Auszählung während der Nacht allerhand Rabatz gegeben. Warum wir nicht auf für die Auszähl-Nacht eingeteilt worden seien, will ich bei der Frühkonferenz wissen von unserem Delegationsleiter, dem Portugiesen Emanuelis Zingeris, dessen unverkennbar übernächtiges Aussehen entschieden nicht von einer in Wahllokalen durchwachten Nacht herrührt. BBC berichtet schon von den üblichen, nein, nicht Wahlschwindeln, aber von Wahlstreitereien. Die Opposition, abermals geschlagen, kündigt Rekurs an. Es sei zu verfälschenden Stimmenzurechnungen an die siegende Regierungspartei mit dem schönen Namen „Georgian Dream“, Georgischer Traum, gekommen. Erfahrene Wahlbeobachter beschwichtigen. „Nichts im Vergleich zu vergleichbaren Ländern“, weiß Lord Balfe. Ich gebe zu bedenken: Wir hätten doch auch die Stimmenauszählung überwachen müssen. Nein, wird mir beschieden, das sei anderer Beobachter Aufgabe gewesen.

 

Ein Letztes noch: Lord Balfe, ein Gentleman von Kopf bis Fuß, gab mir schon am ersten Tag eine Lebensregel mit: „Wollen wir alles mit Freude angehen! An den Wert des Leidens habe ich nie geglaubt.“ Dies vorausschickend, wies er unseren georgischen Begleiter an: „Alles mache ich mit, aber nicht ohne nach Gori zu fahren und dort das Stalin-Museum zu besuchen, – okay, Florian?

Florian Kronbichler

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