Florian
Kronbichler


Frontalieri-Stau vor Chiasso

Grenzpendler? Grenzpendler, das sind jene seltenen Exemplare Vinschger, die den Südtiroler Medienkonsumenten von der „Grenzpendler-Tagung“ her bekannt sind. Diese findet verlässlich zwischen Weihnachten und Neujahr in Glurns oder Schluderns statt. Jedes Jahr. Und weil für Zeitungen, Fernsehen und Radios um diese Feiertage herum chronischer Nachrichten-Notstand herrscht, berichten sie über die Grenzpendler-Tagung immer mit Hingabe und überverhältnismäßig. Südtiroler Grenzpendler sind Arbeitnehmer, die ihren Wohnsitz in einer der Obervinschger Gemeinden, ihren Arbeitsplatz in der nahen Schweiz haben und täglich dazwischen hin- und herpendeln. Ihrer etwa eintausend sind es nach Zählung des KVW, der sich dieser Kategorie besonders angenommen hat. Eine Zeitlang galten sie als eher bedauernswerte Arbeitnehmer (der weite Arbeitsweg!), letzthin immer öfter als privilegierte. Zu Schweizer Löhnen verdienen und Südtiroler Kosten konsumieren, dazu noch mit allerhand steuerlichen Vorteilen gesegnet, lässt bei heimischen Arbeiterkollegen leicht Neid ins Kraut schießen.

Dieses Bild also hatte ich von den Grenzpendlern, als mich der Präsident des interparlamentarischen Ausschusses Italien-Schweiz, der PD-Abgeordnetenkollege Gianni Farina, selber Schweizer Bürger, einlud, zu einer Studienfahrt über das Problem „Frontalieri“, eben Grenzpendler, in die Schweiz mitzukommen. Ich sitze jetzt im Zug auf der Rückfahrt von Chiasso über Mailand nach Bozen und lass mir die drei Tage Grenzpendler-Gespräche Revue passieren. Wir waren im Schweizer National- und Bundesrat, berieten mit Abgeordneten aller Parteien, trafen den italienischen Botschafter in Bern, den Konsul in Lugano und zwischendurch einfache Grenzpendler-Vertreter im Tessin.

Ich habe jetzt eine etwas erweiterte, weniger Südtirol-bezogene Sicht vom Problem. Unsere Vinschger Grenzpendler kommen nicht vor, wenn in der Schweiz von einem Frontalieri-„Problem“ gesprochen wird. Es geht dann nur um jene Italiener, die aus der lombardischen Grenzregion in den schweizerischen Tessin pendeln. Das sind Massen. Gegenwärtig pendeln geschätzte 65.000 Italiener täglich bei Chiasso über die Grenze zur Arbeit ins Tessin. Bei einer Einwohner-Bevölkerung von 300.000 sind das über 20 Prozent zusätzlicher Menschen. Sie finden hier Arbeit zu durchschnittlich doppeltem Lohn wie daheim, drücken das Schweizer Lohnniveau, zahlen weniger Steuern, beanspruchen öffentliche Dienstleistungsstrukturen, sie verursachen täglich Stau zum und vom Arbeitsplatz („bald jeder zweite fährt allein mit dem Privatauto“, schimpft die Schweizer Lega-Nationalrätin). Und was das Bedenklichste sei: Immer mehr norditalienische Unternehmen verlegen ihren Firmensitz ins schweizerische Tessin. Geringere Besteuerung, weniger Bürokratie, höhere Rechtssicherheit sind gute Argumente dafür. Den Tessinern wird’s zu eng.

Es brodelt im sonst friedlichen und prosperierenden Tessin. Der Brotneid schürt Fremdenfeindlichkeit. Und bezeichnend: Die Extremisten hie- und jenseits der Grenze sind ideologisch einander sehr verwandt. Im Tessin hetzt die dortige Lega gegen die Frontalieri-Flut, in der Lombardei ist es die italienische Lega, die sich zum Anwalt ihrer Frontalieri aufwirft. Wir hatten einen solchen Lega-Senator mit unserer Delegation. Er wohnt selbst in der Schweiz (in Locarno), und die Frontalieri aus den nahen Provinzen Como, Lecco und Sondrio sind seine Wahlkundschaft.

Bei aller Solidarität, die Arbeiterpendler verdienen, ich habe lernen müssen, dass die Sorge der Schweizer vor der Grenzpendler-Flut auch Verständnis verdient. Gegenwärtig wird an einer Reform bestehender Abkommen zwischen Schweiz und Italien gearbeitet. Die Tessiner Lega—Abgeordnete will alle bisherigen Vergünstigungen für die Italiener gestrichen wissen. „Unser“ lombardischer Lega-Senator (bei Gott kein Linker!) droht mit Demonstrationen, wenn nur ein „Grundrecht“ der Frontalieri in Frage gestellt werde. Was für die Betroffenen das Schlimmste wäre: Wenn nur Lega und Lega am Verhandlungstisch säßen.

Foto: Mit italienischen und Schweizer Parlamentariern im Luganer High-tec-Park mit dem leistungsstärksten Rechner-System Europas.


Flor now
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