Soldat seines Glaubens
In Erinnerung an Emil Stocker, den Fremdenlegionär, der zum Moralprediger konvertierte.
Ob Corona doch etwas mit Krieg zu tun hat? Dienstag dieser Woche, 24. März, ist Emil Stocker gestorben. Am Corona-Virus, angeblich. Mich ärgert, wie leichtfertig Politiker und Journalisten gegenwärtig mit Kriegsvergleichen spielen. „Wie im Krieg, nur ohne Bomben“, „nie seit dem Krieg“, „Kriegszustände!“ Sanitäter sind rund um die Uhr „an der Front“. So dröhnt es aus den Berichterstattungen über die Coronavirus-Krise. Wer so martialisch daherredet, finde ich, bagatellisiert wirklichen Krieg und beleidigt den Frieden. Als ich jedoch Samstag aus der Zeitung vom Tod des Emil Stocker las, verunsicherte mich das in meinem Ärger über die deplatzierte Kriegsrhetorik.
Emil Stocker war Soldat, wahrscheinlich Südtirols letzter Kriegsheimkehrer, wenn er überhaupt je wirklich heimgekehrt ist, und Soldat blieb er auch dann. Vinschger Arme-Leute-Kind Jahrgang 1929. Option, Nazischule in Rufach. Mit 8 kann Emil schon schießen. Er versäumt es nicht, mit 15 noch einen letzten Rest von Kriegseinsatz zu erwischen. Den jungen Heimkehrer leidet es nicht bei der Mutter in Meran (der Vater, selber schwerer Invalide aus dem 1. Weltkrieg, ist gestorben). In Innsbruck sieht 21-Jährige Anwerbeplakate der Französischen Fremdenlegion. Emil Stocker heuert an und zieht, ohne daheim etwas zu sagen, geschweige sich zu verabschieden, 1951 mit der Fremdenlegion in den Indochina-Krieg nach Vietnam. Die Legionäre sind mehrheitlich versprengte Kriegsüberleber, flüchtige Nazis, Kleinkriminelle, fanatisierte Antikommunisten. Soldat Stocker kämpft vier Jahre lang im ersten Teil des Vietnamkrieges. Er macht sogar eine bescheidene Karriere, gibt für seine Soldherren den Feldfotografen, erlebt die größten Grausamkeit dieses grausamsten aller Kriege nach dem 2. Weltkrieg. Als einer der letzten seiner Einheit verlässt er Hanoi. Von seiner 120köpfigen Kompanie überlebt nur er zusammen mit einem Dutzend Kameraden die Massaker.
Über Mailand, wo er einen Übersetzerjob annimmt und den Handelsoberschul-Abschluss macht, kommt Stocker irgendwann nach Meran zurück. Details seines Fremdenlegionärslebens, hat Emil Stocker letztes Jahr dem Alto-Adige-Journalisten Luca Fregona erzählt. Erschütternd. Doch das ist nicht der Emil Stocker, den man in Meran und in Bozen später kennen lernen wird. In Erinnerung bleibt der hagere, ärmlich, jedoch stets aufgeräumt gekleidete Herr mit der Baskenmütze, dem schwarzen Trenchcoat und der Umhängetasche für seine gestrenge Lebensführung, sein Wissen über die (real oder vermeintlich existierende) Geheimdiplomatie der Regierenden sowie seine schier grenzenlose Konfliktstärke bei politischen Diskussionen.
Abendveranstaltungen von einiger Bedeutung waren in den 70er und 80er Jahren nicht zu Ende, bevor nicht „der Stocker“aufgestanden war und geredet hatte. Er blieb dann auf seiner Position regelmäßig alleine. Das störte ihn nicht und hinderte ihn auch nie, hinterher miteinander etwas trinken zu gehen und, wenn es die Gelegenheit ergab, dabei zu nachtmahlen. Er war aber deswegen absolut kein Schnorrer. Es darf angenommen werden, niemand am Tisch hatte je einen genügsameren Menschen kennengelernt. Ein Glas Wasser, wenn das nicht da war, tat’s auch ein Wein oder ein kleines Bier, ein Stück Brot, trocken oder belegt, egal, und basta. Einer seiner wenigen Freunde erinnert sich, Emil hat auch auf Bergtouren, die er unternahm (immer in bescheidenem Ausmaß) nie ein Proviant mit dabeigehabt. Wer sich wunderte, bekam vom Bergkameraden Emil ein wissendes Lächeln zur Antwort: In Vietnam, damals, gab’s auf Märschen mit 20 – 30 Kilo im Tornister oft tagelang keine Verpflegung.
Emil Stocker war sonst nicht von der Sorte Männer, die ihren Lebtag lang ihre Landservergangenheit verklären. Das Kapitel Fremdenlegionär hatte er, abgesehen von einer bescheidenen Pension, die ihm die Grand Nation spät zuerkannte, abgeschlossen. Er drängte seine Geschichte niemadem auf. Kriegsmann in einem weiteren Sinn allerdings blieb der Veteran. Nur wendete sich sein Kampfgeist fortan neuen Gegnern zu: dem geistig-moralischen Verfall der modernen Gesellschaft und den Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils, hinter denen er weitgehend Irrlehren und das Teufelswerk von Liberalismus und Freimaurertum ausmachte.
Seine Kirchenkritik, so radikal sie war, führte den Gotteskrieger jedoch zu keiner der diversen Splitterkonfessionen. Konsequent fuhr er fort, in Meran die katholische Sonntagsmesse in der Pfarrkirche zu besuchen, wie falsch der Dekan in der Predigt das Evangelium auch immer auslegen mochte. Nie das Schlachtfeld deiner Ideen dem Gegner überlassen! Sein Lehrgebäude war philosophisch wie theologisch fest bei Thomas von Aquin stehen geblieben. Was danach kam, war Verfall. Einzig mit dem späten Joseph Ratzinger sah Emil Stocker Hoffnung aufschimmern, die Kirche könne sich noch einmal des rechten Wegs besinnen.
Noch ein Kampfziel nahm den Stocker sein ganzes moralisch politisches Leben lang in Beschlag: Es war sein Kampf gegen die Volkstumspolitik der Südtiroler Volkspartei. Er sah diese unvermeidlich in eine Wiederkehr des Nationalsozialismus münden. In diesem Abwehrkampf war dem Unerbittlichen jeder Bündnispartner recht. Selbst war er Mitgründer (und eines von wahrscheinlich weniger als einem Dutzend Mitgliedern) des Südtiroler Ablegers der Europäischen Föderalistischen Partei. Das hinderte ihn nicht, in den 70er Jahren ein enges Verhältnis zur Südtiroler Hochschülerschaft zu pflegen, die damals einen dezidiert linken Kurs fuhr. Den konservativen Stocker störte das nicht, ihm genügte, dass auch die SH die ethnozentrische Linie der SVP ablehnte.
Seine Mission gegen alles Volkstumspolitische (was er Nationalistisches nannte) führte Emil Stocker mit offenen Briefen (vornehmlich an Landeshauptmann und Bischof gerichtet), persönlichen Auftritten bei Tagungen und Diskussionen und Leserbriefen an Zeitungen. Mit Leserbriefen am allerhingebungsvollsten. Diese galten, vom Kernanliegen Volkstumskrieg abgesehen, in späteren Jahren vermehrt dem Schutz des ungeborenen Lebens (gegen die Abtreibung) und wurden vom Autor mit „Paul Emmerich Emil Stocker“ unterschrieben. Ob die Häufung der Vornamen nicht doch auf eine kleine Eitelkeit des sonst mönchisch demütigen Emil hinweisen?
Briefe, offene gleich wie private, schrieb Emil Stocker stets mit großer Akkuratesse. Wie sehr er den Abgang des volkstumspolitisch harten Magnago begrüßte, das Um-sich-Greifen des kumpanesken Durnwalder-Du’s verabscheute er. „Sehr geehrtes Fräulein Mair“, begann er einen Heiratsantrag an die seinerzeitige SH-Sekretärin. Jeden Brief begann er mit solcher Anrede, um dann mit dem ersten Satz fortzufahren: „Erlauben Sie, dass ich Sie grüße.“ In Leserbriefen schrieb er immer die gemeinsten Dinge auf die höchst höfliche Weise. So klangen sie noch grausamer. Tagelang konnte er herumfeilen an Briefen, bis sie saßen und er sie abschickte. Empfängern mögen sie belanglos erschienen haben, er selber hielt sie für Bomben, so scharfe, dass er die Adressaten oft schon vor Empfang davor warnte.
Am Hausrat der kleinen Meraner Wohnung, die ihm die Gemeinde zu einem symbolischen Mietzins überlassen hatte, war das einzige Luxusgerät eine Fotokopiermaschine. Seine Briefe, hatte er sie einmal verfasst, hielt er für sehr vervielfältigungswert. Es ging darin immer um die Wahrheit, das Gute, und die entsprechenden Verfehlungen dagegen. In dieser Wohnung hat ihn am 11. März ein Freund am Boden liegend aufgefunden. Emil Stocker, der Eiserne, muss lang in dieser Lage überlebt haben. Er wurde eingeliefert, von einem Pflegehaus ins nächste verlegt, am 24. März starb er.
Mein letztes längere Gespräch mit Emil Stocker liegt 25 Jahre zurück. Es war nach dem Sterbegottesdienst für Alexander Langer in der Bozner Franziskanerkirche. Ich lud ihn zu mir heim in den Garten ein. Emil vertraute mir an, er denke schon seit Tagen an nichts anderes mehr als an jenen letzten Grund, an dem Langer wohl verzweifelt sein muss. Er fand ihn nicht. Am nächsten Tag rief er mich an. Er wisse ihn jetzt, und er liege verborgen in seinem, Langers, inzwischen zum geflügelten Wort gediehenen Abschiedsaufruf „Macht weiter, was gut war!“ Im Wörtchen „war“, genau genommen. In seiner Vergangenheitsform eben. „Wäre Alexander imstand gewesen zu sagen: Macht weiter, was gut ‚ist’, er wäre nicht verzweifelt.“ Was gut „ist“, ist und bleibt gut. Auf immer und ewig. Und kennt kein gewesen sein. Das war Emil Stocker, ein Soldat seines Glaubens.