Florian
Kronbichler


Kleinigkeiten über eine Große.

Für Maria Kronbichler, das Tante Moidile

Es war Sonntag vor der berühmten Kathedrale in Otranto. Während der Messe war ein Anruf gekommen.  Eine unbekannte Nummer, ich rief zurück. „Maria da“, war die Antwort. Damit ist unsereinem nicht weitergeholfen. Wenn es eines Beweises bedürfte, dass Über- und Kosenamen einen Sinn haben, der Name Maria und meine Verwandtschaft liefern ihn. Wir haben darin Mariedln, Maridln, Moidln und Moidilan, Marielen und – eine Minderheit! – auch schlicht Maria. Die Stimme, die sich mir am Telefon als „Maria“ vorgestellt hatte, gehörte dem Mariele, dem „Brixener Mariele“, um genau zu sein. In ihrer Familie und für sich selbst heißt das Mariele längst Maria, was verdient ist, aber im Pustertal, wo der Großteil der Verwandtschaft lebt, ist damit nichts anzufangen. Maria und aus Brixen – das ist im Zweifelsfall das „Moidile“, und um dieses ging es bei dem Anruf.  

Als also geklärt war, dass die „Maria“ am Telefon das Brixner Mariele war, wusste ich sofort, dass es ums „Tante Moidile“ gehen musste. „Flor, die Gotl ist gestorben, gestern Abend, eingeschlafen. an ihrem Namenstag, weisst ja, sie hat immer Ordnung gehalten“. Ich konnte nicht anders als auszurufen: „schön!“ Ich meinte es wirklich so, schön!, und wenn mir nicht Mariele gleich ins Wort gefallen wäre, hätte ich mich erklären müssen. Aber Mariele, die gespürvolle, feinsinnige Nichte, die der verstorbenen Tante wohl zeitlebens am nächsten stand, war sehr einverstanden, ja begeistert. „Hört her“, sagte sie am offenen Telefon in die Familienrunde, „der Flor hat gesagt ‚schön‘.“

Dabei meinte ich mit schön nicht die „Ordnung“, die Tante Moidile immer gehalten habe. Ich meinte den schönen Tod. Heute ist das verpönt. Bei einer Todesnachricht, und kommt diese noch so erwartet, hat der Empfänger gleich einen bedauernden Ton anzunehmen und die üblichen, abgewetzten Beileidsformeln zu murmeln. Nicht hier. Mein „schön!“ kam an und wurde allseits geteilt. Und was Tante Moidiles „Ordnung“ anlangt, so bezog Mariele das wohl auf den Todestag, der ihr Namenstag war, 12. September – Mariä Namen.

Weltliche Gemüter würden für ordnungsgemäß halten, wenn Tante Moidile nächstes Jahr den 13. Mai zu ihrem Todestag erwählt hätte. Da wäre sie 100 geworden. Doch für die tief Religiöse galt nicht weltlich, und der Namenstag war ihr wichtiger als jeder noch so runde Geburtstag. Sie starb richtig.

Sie starb so, wie sie es – ordnungsgemäß, Tante Moidile war eine moderne Frau – in ihrer Patientenverfügung für sich gewünscht hat: „Nichts aufhalten, aber auch nicht schieben!“ Tante Moidile hat das so ihrer Nichte Mariele diktiert, und so hat diese es mir vor einem Jahr bei einem Besuch erzählt. Ich halte die Formulierung, so ein „Testament“, für die schönstmögliche Patientenverfügung, die es gibt und habe sie seither schon zumindest hundertmal weitererzählt, immer mit Angabe der Quelle versteht sich. Und je nach Reaktion beurteile ich, ob weise oder gedankenlos. Ich stieß fast nur auf Weise. „Nichts aufhalten, aber auch nicht schieben!“ Einfacher, klarer, schöner geht’s nicht. Beides, aufhalten wie schieben, sind heute Gefahren. Tante Moidile war Lehrerin von sehr altem Schlag. Wörter mussten Sinn haben und verstanden werden. Ein Arzt, der ihr Testament nicht versteht, ist ein Lump.

„Das“ Tante Moidile. Sie war die Jüngste meiner Reischacher Grosselternfamilie väterlicherseits. Dem Bauernleben zwar ganz zugetan, aber zart von Statur und von schwächelnder Gesundheit, fand sie vielleicht deshalb in den Lehrberuf. Ihre von jung auf überdurchschnittlich hohe Auffassung von Berufs- und Grossfamilienpflicht müssen der Grund gewesen sein, dass sie sich die Selbstverständlichkeit einer zusätzlichen eigenen bürgerlichen Familie glaubte nicht gönnen zu können. Tante und Patin der eigenen Großfamilie, das gibt es.

Mit ihrer älteren Schwester Burgl und deren Mann Toni und Kindern Agnes, Michael, Hildegard und Maria teilte sie in Brixen 70 Jahr lang etwas, wofür Jahrzehnte später der Name Wohngemeinschaft aufkam. Die Kinder hatten die Mutter und die Gotl, und beide waren für sie gleich. So empfanden wir anderen Verwandten das jedenfalls. Für uns Reischacher waren sie „die Brixner“ und uns von den Verwandten die liebsten. Das lag nicht nur an ihrer und speziell Moidiles an Selbstschädigung grenzender Grosszügigkeit, sondern auch daran, dass sie von allen Verwandten am weitesten weg waren. Liebe Onkeln und Tanten in gar zu großer Nähe zu haben, mündet leicht in fürsorgliche Belagerung.

Brixen und „die Brixner“, das war für uns der Horizont, die Stadt, obwohl wir auch in Bruneck Verwandte hatten, aber das waren halt Brunegger, mehr nicht. Brixen hingegen, und „Brixen schauen“, das war Welt, und Zugfahren. Und große Kirche, nicht zu vergessen. Vater fuhr immer zum Kassianssonntag hin. Da gab es unter uns Kindern ein Geriss, wer mitfahren darf. Es war fast schon ein Ritual. Mutter packte das übliche Trumm Schöpsernes ein, das gib’s bei uns immer; wenn der frische Speck reif war, auch davon das erste Stück; dann halt Erdäpfel, Kabiskraut und sonst allerhand uns nichtssagenden Zeug. „Nur nichts Gekauftes“, ermahnte die Mutter, „das Modile mag das nicht“. Uns Kindern war’s recht so.

Ich war recht geschickt im Brixen-fahren-dürfen. Freilich hatte alles seinen Preis. Bei den Brixnern angekommen, wurde der kleine Flor (olm ih!) sofort von einer der Tanten, meistens vom Moidile (die Burgl war „im Gschäft“, so hießen sie das Café) in die Küche abgeführt,  vor den Wassertrog, und ich wurde abgeschrubbt und abgebürstet, gekämmt und geschnäuzt, und eben ordentlich hergerichtet für die Kassiansprozession. Es war eine Demütigungskur, von der Tante nicht so gemeint. Für unsere Mutter gab es mildernde Entschuldigungen. „Verständlich, bei so vielen Buben!“ In der Tat, für mich galt lang noch als Erkennungszeichen: von zweien der weniger Saubere.

Es tat nicht weh, und außerdem gab es bei den Brixnern eine Menge Entschädigungen: Resttorten aus der hauseigenen Konditorei, Minikricket im Garten, und überhaupt: einen Sonntagnachmittag ohne anschließend in den Stall zu müssen, und zur Vesper in den Dom gingen die Erwachsenen allein.

Eine Schattenseite hatten die Brixen-Fahrten des Vaters allerdings auch. Vor allem die späteren, als er allein hinfuhr, und wir Kinder nicht mehr mitkamen. Mutter sagte nichts dagegen, hätte sie sich nie getraut, aber sie erwartete die Rückkehr von Vater von Mal zu Mal mehr mit Sorge. Brixen war nämlich immer auch ein bisschen das Familientribunal. Vater erfuhr dort von uns Buben oft mehr, als er von daheim zu wissen glaubte. Und es war nicht nur Vorteilhaftes. Im erweiterten Verwandtschaftsrat wurde allerhand aufgetischt, Moralisches, versteht sich. Daheim konfrontierte uns der heimgekehrte Vater dann mit den jeweiligen Brixner Befunden. Wir stritten regelmäßig alles ab. Und Mutter stand dabei tapfer auf unserer Seite. “Diese Brixner!”, sagte sie, und gemeint war meistens ein Brunecker.

Der Wahrheit die Ehre, das Tante Moidile griff in der Regel abwiegelnd und schlichtend ein, wenn über uns Prackn-Buben gerichtet wurde. Sie war Lehrerin, und außerdem eine Pionierin in aller Art Behindertenförderung, Außenseiter-Integration und generell Nachhilfe in allen Lebenslagen. Sie war eine Mutter der ehrenamtlichen Südtiroler Behindertenarbeit (so durfte man das damals noch heißen). Das
Sozialzentrum Seeburg bei Brixen müsste ihren Namen tragen, wenn Gerechtigkeit wäre. So hartnäckig kämpfte sie um dessen Gründung. Zur Eröffnung war „der Magnago persönlich“ gekommen. Das erwähnte Maria die wandelnde Sozialhelferin besonders gern.

Damit bin ich von dem Tante Moidile unserer Kindheit schon bei der Tante unserer Erwachsenenjahre angelangt. Weiter blieb sie die Gute, aber die Güte blieb nicht nur caritativ, sie begann eine politische Dimension anzunehmen. Grün in einem nicht parteilichen Sinn war Maria immer. Sie war eine Grüne, schon als es die politische Bewegung dieses Namens noch lang nicht gab. Aber sie fand später auch keinen Grund, sich von dieser zu distanzieren. Bei den Brixnern wurde nie verschwendet, immer „Bewahrung der Schöpfung“ betrieben, nur im Eine-Weltladen eingekauft, immer das Abspülwasser zum Blumen-Gießen wiederverwendet.

Sie mobilisierte gegen die Ansiedlung des deutschen Gummi-Multis Continental im Süden von Brixen. Als es 1972 zu der berühmten Demonstration der Gegner kam, musste auch mein Vater anrücken. Er schämte sich sehr, hat sein Lebtag nie demonstriert, nicht einmal zum „los von Trient“ 1957 nach Sigmundskron hat er sich locken lassen, aber jetzt, nach Brixen, – „das Moidile sagt, ich muss“. Dem Moidile sagte man nicht nein. Der Anti-Conti-Kampf wurde gewonnen.

Noch ein Kampfeinsatz. Es war in Sarnen in der Innerschweiz zum Begräbnis ihres Bruders, meines Onkels Hans,
Benediktinerbruder Joachim. Zum Mahlele saßen wir im Refektorium des Klosters, ein Dutzend alte Mönche, Überlebende einer untergehenden Welt, und ein paar Verwandte, darunter das Moidile und ich. Irgendwann bittet sie mich, mitzukommen, sie müsse draußen im Auto etwas holen. Womit kam sie zurück? Mit einer Mappe mit Unterschriftenlisten gegen den Flughafen Bozen. Alle Patres und Fratres, ob Schweizer oder Südtiroler, alle unterschrieben. Die Muri dürfen sich deswegen aber nicht einbilden, sie seien die einzige Anti-Bozner-Flughafen-Klostergemeinschaft. Die wandelnde Bürgerinitiative Moidile hat 100%ig noch manch anderes Kloster gestürmt.

Mit den Jahren, verständlich, wurde die Ruhelose ruhiger. Das Augenlicht wurde schwächer, das Gehör versagte, aber sie blieb wach und neugierig. Ließ sie sich die Zeitung eben vorlesen. Nicht nur die Dolomiten, wohlgemerkt. Wiederholt musste ich über meine Parlamentariertätigkeit Rechenschaft ablegen. Aufmerksam, mit dem Rosenkranz in der Hand, hörte sie zu und kommentierte. Nicht jedes Mal zustimmend. Als es zum 90sten hinging, und die Großfamilie ein Fest vorbereite, sagte das Moidile kurzfristig ab. Nicht drum wert.

Es ging dem Ende zu, aber die Neugier blieb der Nimmermüden erhalten. Sie stand ihr noch im Gesicht. Aus dem spitzen Gesichtlein mit den wachen Äuglein sah ich meinen Vater, ihren Bruder, herausschauen, als ich sie vor einem Monat zusammen mit meiner Frau das letzte Mal besuchte. Meinen Vater oder die beiden letzten Päpste, der Woijtyla und der Ratzinger. Die haben alle drei das gleiche Geschaue.

Die Knödel, die sie jetzt nicht mehr selber machte, aber gemacht bekam, waren immer noch grün, vor lauter Grünzeug darin. Noch grüner als die ihren waren nur noch die der „Brunecker Tante“, der Angela. Die war so auf Gesundes gepolt und sammelte derart emsig Hagebutten und Berberitzen, dass wir sie die Kräutertante hießen. Soweit schaffte es das Tante Moidile nicht. Dafür ist die Brunecker Tante auch 100 geworden, und das Brixner Moidile starb am Dienstag zwar zum Namenstag, aber erst mit 99 und ein halb.


Flor now
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