Florian
Kronbichler


Politisch wandern

Von allen Kundgebungen, politischen wie religiösen, ist Wanderung entschieden die friedlichste. Wer wandert, und tut er es auch in hehrster Absicht, will nicht auffallen, nicht bekehren, geschweige revoltieren. Das Ziel der Übung ist ein rein innerliches. Einem Außenstehenden erschließt es sich nicht. Wanderer erklären sich und ihre Mission allenfalls auf Nachfrage. So eine Wandergruppe zog jüngst durch Südtirol. Von Ost nach West, dreizehn Tage lang. Die Gruppe war schon politisch, aber auf eine eher unpolitische Weise, nicht vorwärtsgewandt, sondern – würde es nicht falsch verstanden – sich rückbesinnend. Fünf Schweizer Sozialdemokraten waren es. Vier Männer und eine Frau, Monika Wicki, die Leiterin der Expedition. Ihre Wanderung nennt sich „Via Grimm“ und zur Erklärung: „Politische Wanderung auf den Spuren des Druckergesellen Robert Grimm“. Robert Grimm muss man hier nicht kennen. Er war ein bedeutender Schweizer Sozialdemokrat, wanderte als „Walzbruder“ von Graz über Triest und dabei durch Südtirol heim nach Wald, einer Ortschaft im Kanton Zürich. Im Sommer 1902 war das, also vor 120 Jahren. Im Gedenken daran dieses Jahr die Jubiläumswanderung seiner Gesinnungsfreunde. Der politisierte Grimm (Drucker waren ja die Speerspitze der Arbeiterbewegung) organisierte 1918 den ersten Schweizer Landesstreik. Nach dem zweiten Weltkrieg, 1946, wurde er Präsident des Nationalrats, er starb 1958. In Erinnerung an diese Gründergestalt der Arbeiterbewegung bildete sich die Robert-Grimm-Gesellschaft. Die Landwirtin und Pädagogin Monika Wicki ist ihre Präsidentin und hat die Wanderung auf Grimms Spuren durch Südtirol organisiert.Eine Wanderung sehr in memoriam. Der Schweizer, der vom einfachen Druckergesellen aufgestiegen ist zum schweizerischen Nationalratspräsidenten hat über seine insgesamt an die 700 Kilometer lange Walz von Graz nach Zürich aufmerksam Buch geführt. Die nach ihm genannte Gesellschaft hat es sich zur Aufgabe gemacht, den langen Weg gemäß den Aufzeichnungen nachzugehen. Jedes Jahr ein Stück. Heuer, zum Jubiläumsjahr (1902 – 2022), traf es Südtirol. Grimms Tagebuch liest sich dabei wie eine Südtiroler Landeskunde jener Zeit. Die Chronik, die Wanderleiterin Monika Wicki über die Nach-Wanderung verfasst, dürfte wieder zu einer solchen werden. So wie die Nachfahren von heute sich auf ihrem Weg von Weitlanbrunn (dem ersten Dorf hinter der Grenze zu Osttirol) bis Müstair im Vinschger Münstertal sich die eine und andere Bequemlichkeit gönnten, so verschmähte seinerzeit auch Wandervater Grimm nicht jede Mitfahrgelegenheit. Einmal, so lesen wir, nahm ihn ein Bauer auf seinem Fuhrwerk mit, und es stellte sich heraus: Er war Sozialdemokrat. Der erste Südtiroler sozialdemokratische Bauer etwa? Leider nein. Es war noch auf Kärntner Gebiet. Noch ein Episödchen. Bei den Benediktinerpatres in Gries, heute wie vermutlich schon damals ein vermögendes Haus, bekommt der Wandergesell einen Teller Suppe hingestellt. Er kriegt heftige Bauchkrämpfe davon. Die Rettung: Ein Bauer weiter draußen in Gries spendiert dem Gesellen ein Glas Rotwein, und vorbei war’s mit dem Bauchweh. Die heilende Wirkung des Lagrein, geschichtlich dokumentiert! Die Kellerei Bozen (mit Sitz in der Gegend) mag den aufgedeckten Fall zu Werbezwecken nutzen. Monika Wickis fünfköpfige Wandergruppe hat den Weg ihres Vorgängers und Vorbilds Robert Grimm so getreulich nachgespurt, wie es aus dessen Aufzeichnungen möglich war. Südtirol von Ost nach West in dreizehn Tagesetappen. Von Weitlanbrunn bis Niederdorf am ersten Tag, von Eyrs bis Müstair am letzten. Und weil man ja politisch unterwegs war, erkundigten sich die Gäste auch über die Zustände im Land. Zusammen mit dem Brunecker Grünen-Gemeinderat Hanspeter Niederkofler durfte ich vor dem Aufbruch über Südtirols Autonomie und Parteienlandschaft erzählen. In Bruneck empfing der Historiker Joachim Gatterer die Durchziehenden. In Brixen Hans Heiss. Je länger die (Eid-)Genossen unterwegs waren, desto weniger waren sie auf landeskundliche Nachhilfe angewiesen. Mit jedem Tag und Wegstück wurden sie selber zu Südtirol-Kennern. Das ist ihrem Facebook-Tagebuch zu entnehmen. Von einer Wiedereinkehr bei den Grieser Patres, 120 Jahr danach, und einer nämlichen Suppe, ist darin nicht die Rede. Wäre, wie weiland, ein mageneinrenkendes Glas Wein drauf nötig gewesen, Chronistin Monika Wicki hätte es vornehm verschwiegen. Walzende Sozialdemokraten sind höfliche Gäste.


Flor now
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